Das stille Schiessgerät

  16.09.2022 Frutigen

Sie denken beim Anblick einer Armbrust vor allem an Willhelm Tell und das Mittelalter? Dann geht es Ihnen wie mir – bevor ich im Hubelhaus selbst einen Bolzen einlegte und eine neue Facette dieses Sportgeräts kennenlernte.

JULIAN ZAHND Am Ursprung meines Ausflugs an den Schiessstand steht ein gar nicht mal so erfreulicher Mailwechsel, der sich wie folgt zutrug: In einem Artikel hatte ich Mitte Juli die Leistungen einer Frutigländer Armbrustschützin gewürdigt und ihr Sportgerät an einer Stelle als «archaische Waffe» bezeichnet. Prompt folgte darauf die Nachricht eines passionierten Schützen, der meine Wortwahl tadelte. Schliesslich seien die heutigen Armbrusttypen hochpräzise Geräte und hätten mit den mittelalterlichen Modellen kaum noch etwas gemein. Später sollte ich zudem herausfinden, dass die Armbrust im Waffengesetz gar nicht aufgeführt ist und das Bundesamt für Polizei in einer Liste explizit festhält, dass dieses Gerät nicht als Waffe zu bezeichnen sei. Es sei wohl an der Zeit, dass ich mich mit dieser Disziplin vertraut mache, fand Andy Inniger und lud mich auf einen Kurzbesuch zum Schiessstand Hubelhaus ein. Schuldbewusst nahm ich an.

So stehe ich eines Dienstagnachmittags vor einem unscheinbaren Holzgebäude an Reinisch. Andy Inniger erwartet mich bereits im Schützenhaus, während er die massgeschneiderte Montur bereitlegt: eine steife Hose und die dazugehörige Jacke, alles aus doppeltem Leinen gefertigt. Allein diese Ausrüstung kostet rund 2000 Franken, hält aber immerhin mehrere Jahre, wie Inniger sagt.

Für die Armbrust selbst gab Inniger weitere 6000 Franken aus, in Gebrauch ist sie seit über 20 Jahren. Der Frutiger reiste mit dem Gerät durch halb Europa, als ehemaliges Mitglied des Nationalkaders bestritt er regelmässig Turniere. Heute nimmt er nur noch spasseshalber an Wettkämpfen teil, den Schiessstand besucht er ein- bis zweimal wöchentlich.

Mittlerweile kniet Inniger seitlich auf einem kleinen Kissen, ein zweites Polster klemmt in seiner Kniekehle. Nach einigen Sekunden des konzentrierten Innehaltens entlädt sich die Kraft von 140 Kilo und der Bolzen sirrt durch die Luft. Rund eine halbe Sekunde nach Abschuss durchbohrt er die 30 Meter entfernte Zielscheibe. Das Geschoss weist eine Geschwindigkeit von gut 200 km / h auf und die Flugbahn beschreibt einen leichten Bogen, dessen höchste Stelle 30 Zentimeter über der Abschuss- und Zielhöhe liegt. Per Knopfdruck gleitet die Zielscheibe an einem Draht zu uns, exakt in der Mitte klafft ein Loch. «Für den ersten Schuss doch eher selten», meint Inniger nur, bevor er sein Gerät erneut spannt. Auch der zweite Schuss trifft genau ins Schwarze. Danach reicht er die Armbrust mir. Es folgen ein paar Trockenübungen und ich erfahre, dass eine leichte Berührung des Abzugs reicht, um den Schuss auszulösen. Um mir die Aufgabe zu erleichtern, hat mir mein Lehrer die Armbrust auf einer Stütze fixiert. Dennoch hadere ich vor dem ersten Schuss, denn wenn dieser misslingt, trifft der Bolzen auf Beton und ist hin. Nach ewiger, etwas unkoordinierter Zielerei geht der Schuss dann tatsächlich los, die entladene Kraft erschreckt mich gewaltig. Immerhin: Die anschliessende Analyse ergibt eine Sieben. Erleichterung, Genugtuung. Es ist der Stolz des ahnungslosen Laien, wie ich wenig später herausfinden sollte.

Der Wind frischt zeitweise auf, was sich erbarmungslos auf meine Zielgenauigkeit auswirkt. Um diesen Störfaktur auszugleichen, müsse man die Armbrust leicht zur Seite kippen, instruiert mich Inniger.

Es ist unter anderem diese Sensibilität, die Andy Inniger fasziniert: «Vor jedem Schuss muss ich die Verhältnisse prüfen und die Technik entsprechend anpassen.» Ohnehin fällt die Sorgfalt auf, mit welcher der Schütze zu Werke geht. Spannen, Armbrust positionieren, Bolzen einlegen, zielen und abdrücken: Jedem einzelnen Schuss geht ein längeres Ritual voraus. Die akribische Vorbereitung, gepaart mit ungeteilter Konzentration, macht für Inniger das Armbrustschiessen ebenfalls aus und hat beinahe etwas Meditatives.

Auch mit anderen gängigen Bildern räumt Inniger im Laufe dieses Nachmittags auf: Die Durchschlagskraft seines Geräts etwa interessiert ihn kaum. Der Bolzen ist extra abgestumpft, ein zusätzlicher Hinweis, dass die Armbrust ihre kriegerische Vergangenheit längst hinter sich gelassen habe. «Ich betrachte die Armbrust als faszinierendes Sportgerät, mehr nicht.»

Nach drei Schuss lege ich das Gerät weg. Meine Zielsicherheit hat von Versuch zu Versuch gelitten und bevor ich den rund 200 Franken teuren Bolzen doch noch ruiniere, verabschiede ich mich. Andy Inniger hat mich in diesen paar Stunden zwar nicht zum treffsicheren Armbrustschützen gemacht. Hingegen hat er es geschafft, meine Assoziation mit einer archaischen Waffe zu kappen.


Ein klassischer Fall von Volksetymologie

Weil man das Schiessgerät mit dem Arm bedient und seitlich an die Brust legt, scheint die Herleitung des Begriffs naheliegend – ist aber komplett falsch. Der Name ist eine Abwandlung des lateinischen Wortes «Arcubalista» (arcus = Bogen, ballista = Wurf). In mehreren Schritten der Eindeutschung entstand daraus der Name «Armbrust».

JUZ


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