Erst kämen Sparappelle – als nächstes die ersten Verbote

  09.08.2022 Gesellschaft

ENERGIEVERSORGUNG Das Szenario scheint derzeit weit weg. Doch wenn es schlecht läuft, könnte in der Schweiz schon im nächsten Winter der Strom knapp werden. Bevor bei den Privaten die Lichter ausgehen, wären zunächst andere betroffen – zum Beispiel Bergbahnen und Hotels.

MARK POLLMEIER
Guy Parmelin trägt einen Anzug in gedeckten Farben und schaut ernst in die Kamera. In den nächsten zweieinhalb Minuten wird er versuchen, die «geschätzten Unternehmerinnen und Unternehmer» der Schweiz auf eine bislang unbekannte Realität einzustimmen. Man lebe in einer digitalen und vernetzten Gesellschaft, führt der Wirtschaftsminister in französisch gefärbtem Singsang aus. Eine moderne Gesellschaft sei davon abhängig, dass sie jederzeit Zugang zu genügend Strom habe. «Wenn es zu wenig Strom gibt, hat dies enorme Auswirkungen – eine Situation, die wir uns nur schwer vorstellen können und möchten.»

Danach zählt Parmelin jene Massnahmen auf, vor denen sich eine auf Effizienz getrimmte Wirtschaft fürchtet: Einschränkung der Produktion bis hin zur Stilllegung ganzer Industriezweige; Reduktion des Dienstleistungsangebots, etwa bei Banken; Stillstand bei stromabhängigen Transportmitteln wie Zügen, Trams oder Bergbahnen.

Der Krieg hat die Lage dramatisch verändert
Produziert wurde das Aufklärungsvideo bereits im Sommer 2021. Damals ging es vor allem um die künftige Energiepolitik in Europa. Bis spätestens Ende 2025 müssen die Nachbarländer mindestens 70 Prozent der grenzüberschreitenden Stromkapazitäten für den Handel zwischen den EU-Mitgliedstaaten reservieren. Drittstaaten, wie die Schweiz einer ist, würden von diesen 70 Prozent nicht profitieren. Das könnte dazu führen, dass der Export in die Drittstaaten eingeschränkt wird – vor allem im Winter. Bis vor wenigen Monaten wurde eine mögliche Stromknappheit vor allem von Insidern diskutiert. 2025 schien noch weit weg. Doch mit dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs hat sich die Ausgangslage dramatisch verschärft. Mittlerweile ist es durchaus möglich, dass in der Schweiz zeitweise nicht mehr genügend Strom durch die Leitungen fliesst.

Gas und Strom hängen zusammen
Russland ist ein grosser Produzent fossiler Energieträger und nutzt diesen Umstand nun, um politische Gegner unter Druck zu setzen – vor allem mit einer bewussten Verknappung seiner Gaslieferungen. Weniger Gas heisst, dass in Europa weniger Energie und in der Folge weniger Strom zur Verfügung stehen. Gaskombikraftwerke, die helfen sollten, Versorgungsengpässe zu überbrücken, würden bei Gasmangel weitgehend wegfallen. Das ist auch deshalb relevant, weil Gaskraftwerke in Deutschland die abgeschalteten Atomkraftwerke teilweise ersetzen sollten.

Die prekäre Situation, die man in der Schweiz für die Zeit ab 2025 befürchtete, könnte also viel früher als erwartet eintreten. Die Gefahr einer baldigen Strommangellage sei «real und gross», so der Verband der Schweizer Energiekonzerne an einer Fachtagung in Bern.

Auch ohne das Mahnvideo des Wirtschaftsministers hat die Wirtschaft längst begriffen, was die Stunde geschlagen hat. Grosse Stromverbraucher wie die SBB und die Post, Coop und Migros stehen mit den Behörden in Kontakt und versuchen, sich auf mögliche Engpässe einzustellen. Doch ihre Möglichkeiten sind begrenzt. Die Beleuchtung zu reduzieren oder die Klimaanlagen in Zügen und Büros nicht ganz so kühl einzustellen, hilft sicher beim Stromsparen. Doch im Kerngeschäft können die meisten Betriebe dann eben doch nicht auf Strom verzichten – es sei denn, bestimmte Bahnen würden gar nicht mehr fahren und einzelne Filialen geschlossen werden.

Gefahr für die touristische Infrastruktur
Ausgeschlossen sind solche radikalen Massnahmen nicht, im Gegenteil. Die Organisation für Stromversorgung in ausserordentlichen Lagen (OSTRAL) hat bereits einen mehrstufigen Notfallplan ausgearbeitet, der im Krisenfall zur Anwendung kommen soll (siehe auch Grafik rechts).

Bei Stufe eins wird der Bundesrat die Bevölkerung aktiv aufrufen, Gas und vor allem Strom zu sparen. Der Bund erhofft sich von diesen Appellen eine Verbrauchssenkung von 5 bis 10 Prozent. Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen jedoch, dass diese Erwartung sehr optimistisch ist. Von ähnlichen Aufrufen in Frankreich weiss man etwa, dass der Verbrauch danach überhaupt nicht sank.

Bereits Stufe zwei sieht deshalb Verbote für nicht notwendige und besonders verbrauchsintensive Anlagen vor. Was genau darunter zu verstehen ist, darüber wird hinter den Kulissen eifrig gestritten. Sicher betroffen wären beleuchtete Werbung, Rolltreppen, kleinere Heizgeräte sowie Sauna- und Wellnessanlagen, etwa jene in Hotels. Auf Anfrage von SRF hat das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung bestätigt, dass aber auch Schneekanonen und Hallenbäder in diese Kategorie fallen könnten. Selbst ein komplettes Herunterfahren der touristischen Infrastruktur will man von Behördenseite nicht grundsätzlich ausschliessen.

Die konkrete Liste der verbotenen Stromanwendungen ist nicht fix, sondern abhängig vom Grad der Unterversorgung. Über die einzelnen Massnahmen entscheidet, wie schon während der Corona-Krise, im Ernstfall der Bundesrat. Stand heute ist für die betroffenen Betriebe keine Entschädigung vorgesehen. Auch darüber allerdings wird noch diskutiert. Möglich etwa wäre eine Unterstützung wie während der Pandemie.

«Strom-Kommunismus» für Unternehmen
Die dritte Stufe sieht eine Kontingentierung des Stroms für Unternehmen vor. Jenen rund 30 000 Grossverbrauchern, die pro Jahr mehr als 100 Megawattstunden beziehen, würde der Staat also vorschreiben, wie viel Strom sie noch verbrauchen dürften und wann. So wäre beispielsweise eine Verbrauchserlaubnis nur für die Nacht denkbar. 10 bis 30 Prozent Sparpotenzial erhofft man sich von solchen Einschränkungen, deren Einhaltung von den Kantonen überprüft würde.

Mit dieser schon sehr weitreichenden Massnahme soll der letzte mögliche Schritt verhindert werden: Stufe vier des Notfallplans sieht komplette Stromabschaltungen von jeweils mehreren Stunden vor, wobei eine Dauer von vier Stunden möglichst nicht überschritten werden soll. Nach Inkraftsetzung dieser Massnahme würden die Verteilnetzbetreiber die Verbraucher in ihrer Region reihum vom Netz trennen. Auf acht Stunden mit Strom könnten dann etwa vier Stunden ohne Strom folgen.
Ziel ist, dass der Strom nie grossflächig unterbrochen ist, sondern rollierend in verschiedenen Gebieten: Die einen haben Strom, die anderen nicht. Für sicherheitsrelevante Einrichtungen wie Blaulichtorganisationen oder die Wasserversorgung seien – sofern technisch möglich – Ausnahmen von dieser drastischen Massnahme vorgesehen, schreibt das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung.

Entscheidend: Wetter und Atomstrom
Die weitreichende Stufe vier wird nötig, wenn etwa 30 bis 40 Prozent des sonst verfügbaren Stroms wegbrechen würden. Ob es tatsächlich so weit kommt, kann derzeit niemand voraussagen. Für die Stromversorgung im Winter sind mehrere Faktoren entscheidend, etwa das Verhalten Russlands, das Agieren der Nachbarstaaten und nicht zuletzt das Wetter. Mit einer absichtlichen Verknappung der Gasressourcen könnte die russische Regierung eine europäische Stromkrise bewusst provozieren. Dann würde viel davon abhängen, ob andere Länder auf Atomstrom setzen können – oder wollen. In Frankreich sind derzeit viele Atomkraftwerke nicht am Netz, weil sie gewartet werden müssen. In Deutschland läuft aktuell eine Debatte, ob man die dortigen Atomkraftwerke, von denen die letzten eigentlich Ende 2022 abgeschaltet werden sollen, angesichts der Lage länger laufen lässt.

Schliesslich wird auch das Wetter eine Rolle spielen. Gas wird unter anderem zum Heizen genutzt. In einem kalten Winter würde deswegen der Heizbedarf steigen, wodurch noch weniger Gas für die Stromproduktion zur Verfügung stünde.

Klar ist: Netzabschaltungen oder auch nur eine «wackelige» Versorgung hätten schwerwiegende Folgen. Allein die Möglichkeit einer Mangellage sorgt derzeit für geschäftige Unruhe in der Wirtschaft und in den Krisenstäben der Kantone. Doch selbst wenn der Winter völlig problemlos verläuft: Vergeblich sind solche Antrengungen nicht. Unabhängig von der aktuellen Situation wird die Stromversorgung in den nächsten Jahren eine Herausforderung bleiben.


Knappe Wasserreserven für den Winter

Als wäre die Ausgangslage nicht schon schwierig genug, könnte das stabile Sommerwetter die Lage im Winter weiter verschärfen.
Stauseen und die nachgelagerten Kraftwerke wären eigentlich ideal, um Schwankungen bei der Stromversorgung auszugleichen, denn sie funktionieren wie grosse Batterien. Im Sommer werden die Seen gefüllt, im Winter kann Strom produziert werden. Das funktioniert jedoch nur, wenn genügend Wasser vorhanden ist. Hält aber die sommerliche Trockenheit zu lange an, senkt dies die Wasser- und damit die Stromreserven für den Winter. Derzeit befinden sich die Füllstände der Schweizer Speicherseen leicht unterhalb des langjährigen Mittels, die Schneereserven liegen dagegen schon deutlich unter der Norm.
Die Wasserproblematik ist freilich nicht auf die Schweiz begrenzt, sondern betrifft auch die Wasserkraftwerke anderer Länder.

POL


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