Tausende haben Probleme

  06.09.2022 Gesellschaft

KOMPETENZEN Der 8. September ist der Weltalphabetisierungstag, und wer nun glaubt, dieses Datum gehe die Schweiz nichts an, irrt sich. Auch hierzulande tun sich viele Menschen schwer mit längeren Texten, mit einfacher Mathematik oder grundlegenden Computerkenntnissen.

MARK POLLMEIER
Es sind Zahlen, die aufhorchen lassen: 800 000 erwachsene Menschen in der Schweiz können nicht fliessend lesen und schreiben, allein im Kanton Bern leben rund 70 000 Betroffene. Über 400 000 Personen haben Schwierigkeiten mit einfacher Mathematik. Und ein Viertel der Schweizer Bevölkerung verfügt über geringe oder gar keine digitalen Grundkenntnisse.

Die Gründe für solche Defizite sind vielfältig. Mancher hatte eine unglückliche Schulbiografie mit vielen negativen Erfahrungen. Bei anderen ist eine zu spät erkannte Seh- oder Hörschwäche die Ursache. Auch schwierige Lebensumstände oder Schicksalsschläge können dazu führen, dass ein Kind oder Jugendlicher die genannten Kompetenzen nie richtig erworben hat.

Geht es dagegen um digitale Kenntnisse, spielen häufig Berührungsängste eine Rolle. Die Sorge, etwas falsch oder kaputt zu machen, hält erwachsene Menschen davon ab, sich näher mit Computern oder Smartphones zu beschäftigen. Ist aber der Anschluss erst einmal verpasst, fällt der Einstieg umso schwerer.

Die Scham, sich Hilfe zu holen
Ob Lesen und Schreiben, einfaches Rechnen oder Computerkenntnisse: Wer sich mit solchen Grundkompetenzen schwertut, trifft im Alltag auf viele Stolpersteine. Ein Formular ausfüllen, am Automaten ein Zugticket lösen, im Supermarkt rasch ein paar Preise zusammenzählen – solche scheinbar einfachen Tätigkeiten stellen für die Betroffenen grosse Herausforderungen dar. Bewältigen lassen sie sich nur mit Unterstützung anderer. Wer aber in der Öffentlichkeit, etwa aus Scham, nicht um Hilfe bitten möchte, ist in solchen Situationen aufgeschmissen.

Auch aus gesellschaftlicher und volkswirtschaftlicher Perspektive sind die Auswirkungen beträchtlich. Sofern sie berufstätig sind, bleiben Menschen mit mangelnden Grundkenntnissen häufig unter ihren Möglichkeiten. Mitunter erhalten sie deswegen weniger Lohn, ihre Aufstiegschancen sind begrenzt. Je nach Branche droht solchen Arbeitnehmer-Innen langfristig die Kündigung. Brauchen sie dann staatliche Unterstützung, werden dadurch die Sozialwerke belastet, etwa die Arbeitslosenversicherung oder die Sozialhilfe. Ganz generell leidet unter mangelnden Grundkenntnissen die Chancengleichheit. Wer zum Beispiel Mühe hat, längere Texte zu lesen oder zu erfassen, ist von vielen Informationen praktisch abgeschnitten. Die Beteiligung an politischen Prozessen wie Abstimmungen oder Wahlen wird dadurch erheblich erschwert, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ebenso.

Freunde und Familie sind gefragt
Die gute Nachricht ist: Es ist nie zu spät, seine Kenntnisse zu verbessern, sei es im Lesen und Schreiben oder in anderen Bereichen. Beispiele von Erwachsenen, die erfolgreich einen entsprechenden Kurs besucht haben, gibt es zuhauf. Durch die Verbesserung grundsätzlicher Kompetenzen ergeben sich nicht selten neue berufliche Möglichkeiten. Wer sich bisher scheute, Jobs mit einem gewissen Schreibanteil anzunehmen, fühlt sich nach dem Besuch eines Kurses sicherer und wagt vielleicht die Bewerbung für eine solche Stelle. Wer seine Lesekompetenz verbessert hat, wird auch besser mit Computern oder Smartphones umgehen können.

Wichtig ist, dass Betroffene auf die Unterstützungsmöglichkeiten aufmerksam werden. Zwar gibt es gerade rund um den Weltalphabetisierungstag diverse Kampagnen zum Thema, etwa vom Schweizer Dachverband Lesen und Schreiben (siehe Infokasten). Wenn diese Aktionen jedoch in der Zielgruppe nicht wahrgenommen werden, verpufft das Engagement.

Hier sind die Familien der Betroffenen gefragt, Freundinnen und Freunde oder auch die Arbeitgeber. Ein Hinweis auf Unterstützungs- und Beratungsmöglichkeiten kann bei Betroffenen etwas in Bewegung setzen und dabei helfen, ihre Situation zu verbessern.


Äusserungen von Betroffenen

«Früher bin ich viel mit der SBB gefahren. Da wusste ich, wie ich ein Ticket kaufen kann. Heutzutage ist es kompliziert. Ich verstehe das mit der App nicht.»

«Wir fahren immer an den gleichen Ort in die Ferien. Da kennen wir uns aus. Man muss so viele Infos lesen, wenn man woanders hinreisen will.»

«Ich fühle mich immer über den Tisch gezogen, wenn es um finanzielle und offizielle Sachen geht. Ich kann die Angebote nicht vergleichen.»

«In der Pflege zu arbeiten, das war immer mein Traum. Ich hatte in der Schule gehört, dass man in der Ausbildung und im Beruf viel schreiben muss. Das habe ich mir nicht zugetraut. Ich habe dann einen anderen Beruf gewählt.»

Die anonymisierten Zitate wurden zur Verfügung gestellt von der bernischen Fachstelle für Grundkompetenzen. (www.lesenschreiben-bern.ch)


«Einfach besser!»

Die nationale Kampagne «Einfach besser!» hat zum Ziel, Erwachsene, die Schwierigkeiten mit den Grundkompetenzen haben, zu Kursbesuchen zu motivieren. Solche Kurse werden für Lesen und Schreiben, Rechnen und Computerkenntnisse angeboten. Unter der Internetadresse www.besser-jetzt.ch finden sich regionale Angebote für Privatpersonen, aber auch für Betriebe, die massgeschneiderte Kurse anbieten möchten.

Ein unverbindlicher, kostenloser Anruf bei der Beratungshotline kann helfen, erste Fragen zu klären; Tel. 0800 47 47 47.

In einem Video berichten Betroffene, was sie zum Besuch eines solchen Kurses motiviert und wie dieser Schritt ihnen geholfen hat. Das Video und weitere Infos haben wir unter www.frutiglaender.ch im Bereich Web-Links hinterlegt.

POL


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote