Hat Corona zu einer besonders hohen Übersterblichkeit geführt?

  23.07.2021 Gesellschaft

STATISTIK In den Gemeinden des Frutiglands verlief das Jahr durchschnittlich. Im Grossen und Ganzen lag die Sterberate auf dem Niveau der Vorjahre. Für die Schweiz fällt das Ergebnis anders aus: Hier hat die Pandemie zu deutlich mehr Sterbefällen geführt. Wie stark dieser Effekt ausfällt, hängt auch von der Region ab.

MARK POLLMEIER
«Als ich vernommen habe, dass auf dem Friedhof Frutigen im 2019 und im 2020 gleich viele Verstorbene begraben worden sind, hat es mich erstaunt.» So schrieb uns kürzlich ein Leser aus Frutigen. Und weil er diese Zahlen angesichts der Corona-Pandemie gar nicht glauben konnte, begann er zu recherchieren.

Beim Bundesamt für Statistik (BFS) suchte er sich die entsprechenden Daten für die Gemeinden im früheren Amt Frutigen heraus und verglich die Sterbefälle von 2011 bis 2020. Und tatsächlich: In Frutigen sind im Corona-Jahr nicht mehr Menschen gestorben als in den Jahren zuvor. Mit 63 Todesfällen war 2020 ein gänzlich unauffälliger Zeitraum. Ähnlich sieht es in den meisten anderen Gemeinden des Frutiglandes aus. Zwar gibt es Ausreisser nach unten (Adelboden) oder nach oben (Kandergrund, Reichenbach). Schaut man die letzten Jahre an, bewegen sich solche Abweichungen jedoch im Rahmen der normalen Schwankungen (siehe Tabelle unten rechts). Sprich: Die Gemeinde Adelboden hatte auch schon 2015 eine derart tiefe Sterberate, in Kandergrund lag sie 2011 ähnlich hoch, in Reichenbach 2015.

Die Tücken der Berechnung
Betrachtet man diese nackten Zahlen, war 2020 – zumindest im Frutigland – also kein aussergewöhnliches Jahr. Daraus zu schliessen, Corona sei offenbar doch nicht so gefährlich wie immer behauptet, wäre jedoch ein zu einfacher Schluss. Erweitert man nämlich den Fokus und schaut sich die gesamte Schweiz an, ergibt sich für 2020 ein anderes Bild.

Seit 1974 veröffentlichen die Statistiker des Bundes die Über- bzw. Untersterblichkeit, also eine erhöhte oder verringerte Sterberate im Vergleich zu den bisherigen Erfahrungswerten. Der Wert ist nicht einfach zu berechnen, denn die Schweiz von heute ist nicht mehr die Schweiz von 1974. Das Land hat heute viel mehr Einwohner, seine Altersstruktur hat sich verändert. Die Menschen werden insgesamt älter und sind in fortgeschrittenem Alter noch fitter als vor 40 Jahren. Die Medizin hat teils gewaltige Fortschritte gemacht, das Gesundheitssystem ist generell ein anderes.

Das Bundesamt für Statistik bezieht alle diese Faktoren in die Berechnung der Sterberate ein. Und das Ergebnis ist eindeutig: Das Jahr 2020 weist eine hohe Übersterblichkeit auf, die höchste der vergangenen Jahre. Vergleicht man 2020 direkt mit 2019, starben in der Schweiz 12 Prozent mehr Menschen. Selbst im Vergleich zu 2015, als wegen eines sehr heissen Sommers und einer schweren Grippewelle schon deutlich mehr Menschen starben, zeigt das Corona-Jahr noch mehr Todesfälle. Doch wie ist die Übersterblichkeit mit Blick auf das Coronavirus zu bewerten?

Das Paradox der Prävention
Kritiker der Corona-Massnahmen führen ins Feld, dass 10 oder 12 Prozent mehr Todesfälle gar nicht so viel seien – jedenfalls dann nicht, wenn man sie mit der von Behörden und Medien geschürten Panik vergleiche. Und tatsächlich sieht das Jahr 2020 etwa im Vergleich mit dem Hitze- und Grippejahr 2015 gar nicht so dramatisch aus. Bei der Beurteilung, wie gefährlich die Pandemie-Situation letztlich war, gibt es jedoch zweierlei zu bedenken.

Erstens: das Vorsorgeparadox. Gerade weil die Behörden in bestimmten Phasen die Corona-Massnahmen verschärften, ist die Sterberate 2020 nicht noch höher ausgefallen. Wären die Beschränkungen nicht gewesen, hätte es möglicherweise deutlich mehr Todesfälle gegeben. Möglicherweise, denn eine «Vergleichsrealität» gibt es nicht, und auch der Verweis auf andere Länder ist schwierig, weil die dortigen Bedingungen (Besiedlungsdichte, Massnahmen, Impftempo, Mentalität) häufig andere sind.

Dass einzelne Vorsorgemassnahmen wie etwa das Abstandhalten wirksam waren, steht jedoch ausser Frage. Werden Kontakte vermieden, erschwert man dem Cornavirus die Verbreitung. Im Umkehrschluss kann man also annehmen, dass die Todesfallzahlen ohne diese beschränkungen höher gewesen wären.

So sieht es auch das Bundesgericht, das am Mittwoch drei Beschwerden gegen die Corona-Massnahmen der Behörden abgewiesen hat. In ihrer Begründung erörterten die Richter unter anderem, wie die Pandemie verlaufen wäre, wenn es die kritisierten Massnahmen – Einschränkung der Versammlungsfreiheit und Tragen von Schutzmasken – nicht gegeben hätte. Eine Antwort auf diese Frage lasse sich zwar nicht mit wissenschaftlicher Genauigkeit geben. Es sei allerdings plausibel, dass die Zahl der Todesfälle und die Auslastung der Spitäler ohne einschränkende Massnahmen höher gewesen wären. Vor diesem Hintergrund betrachteten die Richter die angeordneten Massnahmen als verhältnismässig und wirksam – auch das Masketragen, das Beschwerdeführer aus dem Kanton Fribourg kritisiert hatten.

Der Zeitpunkt des Sterbens
Die Frage, wann die meisten Menschen starben, liefert einen zweiten Hinweis, dass das Coronavirus eben doch mehr ist als ein Schnupfen oder eine Grippe. Die Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigen eindeutig, dass es die meisten Todesfälle im März und Anfang April sowie ab Mitte Oktober 2020 gab. Das deckt sich mit dem Verlauf der Pandemie. Im Frühjahr wurden die Corona-Massnahmen erst nach und nach angeordnet. Im Sommer hatte man sie dann weitgehend gelockert, was ab Oktober zur zweiten Welle mit besonders vielen Toten führte (siehe Grafik oben).

Vom 19. Oktober bis zum Jahresende gab es rund 7000 Todesfälle mehr, als in dieser Jahreszeit üblicherweise zu erwarten wären. Laut BFS entspricht dies im genannten Zeitraum einer Steigerung von über 50 Prozent.

Ob jemand an oder mit Covid-19 (oder an etwas ganz anderem) verstorben ist, spielt übrigens bei den Erhebungen des BFS keine Rolle. Dort werden lediglich die von den Zivilstandsämtern gemeldeten Zahlen gesammelt. Und diese besagen schlicht, dass 2020 mehr Menschen gestorben sind als üblich, und zwar vor allem während der Pandemiewellen und in der Altersgruppe der über 65-Jährigen. Bei den Jüngeren ist die Übersterblichkeit zwar noch messbar, vor allem im Herbst 2020; aber sie ist längst nicht so ausgeprägt wie bei den Senioren. Dass es hier einen Zusammenhang mit Corona gibt, liegt also auf der Hand: Ohne die Pandemie hätten die Zahlen anders ausgesehen.

Für diese These spricht auch, dass die Sterberate in den letzten Wochen gesunken ist und es – auch in der Altersgruppe 65plus – zeitweise eine Untersterblichkeit gab. Erklärbar ist dies einerseits mit dem Impfschutz, der inzwischen greift, andererseits damit, dass viele der sogenannt vulnerablen, also besonders anfälligen Personen, bereits im letzten Jahr verstorben sind. Im 2020 gab es durch Corona gewissermassen vorweggenommene Todesfälle.

Der Einfluss des Wohnorts
Vor allem während der zweiten Welle belegte die Schweiz bei den Todeszahlen lange einen unrühmlichen Spitzenplatz und wies eine sehr hohe Übersterblichkeit auf. Wie man dies bewertet, ist eine Frage der politischen Einstellung und / oder der Weltanschauung. Die Sterberate ist eben nicht die einzige Kennzahl dafür, wie gut ein Staat die Pandemie bewältigt hat. So ist etwa der Rückgang des Schweizer Bruttoinlandprodukts viel geringer ausgefallen als in Ländern, die strengere Corona-Massnahmen verhängt hatten.

Zurück ins Frutigland. Dass hier nicht deutlich mehr Menschen beerdigt wurden, liegt möglicherweise auch an der geografischen Lage bzw. der Kantonszugehörigkeit. In den Kantonen Genf, Freiburg und Tessin lag die Übersterblichkeit im Jahr 2020 insgesamt bei über 20 Prozent, in Schwyz, St. Gallen und der Waadt bei über 15 Prozent. Demgegenüber schneidet der Kanton Bern mit 5,3 Prozent Übersterblichkeit fast durchschnittlich ab. Noch tiefer lagen nur drei Kantone: Luzern, Basel-Stadt und Graubünden. Grenznähe, Besiedlungsdichte, Altersstruktur, Gesundheitspolitik, Ausländeranteil – welche Faktoren zu diesen sehr unterschiedlichen Ergebnissen geführt haben, müsste noch eingehender untersucht werden.


Wie Über- und Untersterblichkeit berechnet werden

In der Schweiz wird jeder Todesfall beim regional zuständigen Zivilstandsamt gemeldet. Die Zivilstandsämter übermitteln die entsprechenden Zahlen dann ans Bundesamt für Statistik (BFS). Dort weiss man also tagesaktuell, wie viele Menschen wo verstorben sind. Die tatsächlich erfassten Fälle gleicht das BFS mit den erwarteten Zahlen ab. Die Grundlage für diese Erwartungswerte bilden die Statistiken der vergangenen zehn Jahre. In die Berechnung fliessen aber auch verschiedene Faktoren ein, etwa die Bevölkerungsentwicklung. So kommt man zu einer gewissen Schwankungsbreite, die als zufällig betrachtet wird. Alle Werte, die über- oder unter diese Bandbreite hinausgehen, werden als Überoder Untersterblichkeit gewertet.

Die Todesursache – ob an oder mit Corona – spielt bei der Berechnung durch das BFS erst einmal keine Rolle. Erfasst wird die Ursache aber im Bundesamt für Gesundheit.

POL


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