Es gibt leider keinen Zauberstab

  17.09.2021 Coronavirus, Kolumne

Dieses Jahr unterrichtete ich ein ganzes Semester lang politische Philosophie. Dies hatte zur Folge, dass ich mich sehr ausführlich damit beschäftigte, was es genau bedeutet, in einem Staat zu leben und welche Funktion eine Regierung haben sollte. Viele Theorien, die sich mit der Rechtfertigung des Staates befassen, greifen auf einen sogenannten Kontraktualismus zurück; es wird also davon ausgegangen, dass ein sozialer, hypothetischer Vertrag besteht zwischen einer Regierung und den Bürgern eines Staates. Ein solcher Vertrag ist meist nötig oder zumindest vorteilhaft für die individuellen Bürger, weil dadurch gewisse Vorzüge entstehen: Eine Regierung kann die Wirtschaft regulieren, Handel mit anderen Ländern aufgleisen, ein Rechtssystem bilden und soziale Unterstützung liefern. Um jedoch all diese Funktionen erfüllen zu können, braucht eine Regierung auch etwas von ihren Bürgern: Ein Teil der individuellen Freiheit und Autonomie muss aufgegeben werden. Beispielsweise kann ein Staat nicht funktionieren, wenn seine Gesetze nicht eingehalten werden. Und diese Einschränkungen können unterschiedliche Formen annehmen: Ich darf weder den Baum des Nachbarn fällen, obwohl ich das vielleicht gerne möchte, noch darf ich Steuern hinterziehen, obwohl ich das vielleicht auch toll fände. Dafür habe ich aber auch die Garantie des Staates, dass mein Nachbar für meinen Baum zahlen müsste, falls er diesen fällt, und dass er, wenn er seine Steuerschuld nicht begleicht, es dann doch tun muss – dafür sorgt der Staat.

Kurzum: Es handelt sich um ein Geben und Nehmen. Einschränkungen für das Individuum ergeben positive Folgen für das Gesamtwohl der Gesellschaft, wofür der Staat verantwortlich ist.

Sicherlich ahnen Sie, worauf ich hinaus will. Als letzte Woche die neusten Corona-Massnahmen verkündet wurden, ging ein absoluter Aufschrei durchs Land. In Bern wurde fast jeden Abend protestiert (natürlich meist ohne Maske) und aus jeder Richtung hörte ich das Gleiche: «Unsere persönliche Freiheit wird eingeschränkt», «so kommts zur Zweiklassengesellschaft», «Impfzwang», «der Staat belügt uns» etc. Die ganze Situation ist mittlerweile so verwirrt, die Menschen so müde und durcheinander, dass nicht mehr nur die abstrusesten Verschwörungstheorien umherschwirren, nein, wir sind an dem Punkt angelangt, an dem alle einfach nur noch «motzen». Und ich verstehe den Frust. Aber: die Situation ist nun mal die, die sie ist. Corona verpufft nicht einfach durch den Schwung eines Zauberstabs. Und wenn wir zurückgehen zu der Funktion eines Staates, dann erkennen wir, dass es halt genau die Idee eines Staates ist, uns einzuschränken, um die Gesamtheit durchzubringen – egal, ob die Situation nun eine Wirtschaftskrise ist, eine Naturkatastrophe oder eine Pandemie. Und unsere Situation ist nun mal eben diese, dass wir ein Problem haben mit einer Krankheit, das sich lösen lässt, indem die Leute sich impfen lassen und wir eine Zertifikatspflicht einführen. Das sind Einschränkungen, das sehe ich. Aber was ist die Alternative? Anarchie? Wenn wir das Konzept aufrecht erhalten wollen, dass wir grundsätzlich alle am gleichen Strick ziehen, dann muss jeder irgendeine Form von Einschränkung hinnehmen. Es soll jeder entscheiden können, ob er oder sie lieber zu Hause bleibt oder sich impfen lassen will. Aber irgendwas muss man einstecken. Es gibt nun mal nicht «ds Füfi u ds Weggli». Daran lässt sich leider nichts ändern.

XENIA SCHMIDLI

SCHMIDLIX@HISPEED.CH


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote