Dreissig Jahre Berner Verfassung, dreissig Jahre Wandel
31.10.2025 PolitikDrei Jahrzehnte nach ihrem Inkrafttreten wurde die Berner Kantonsverfassung im Rathaus gefeiert – mit Rückblicken, kritischen Gedanken und einem starken Appell, das Fundament der Demokratie lebendig zu halten.
MARTIN NATTERER
In einer feierlichen Stunde am ...
Drei Jahrzehnte nach ihrem Inkrafttreten wurde die Berner Kantonsverfassung im Rathaus gefeiert – mit Rückblicken, kritischen Gedanken und einem starken Appell, das Fundament der Demokratie lebendig zu halten.
MARTIN NATTERER
In einer feierlichen Stunde am 28. Oktober im Saal des Berner Rathauses wurde der am 1. Januar 1995 in Kraft getretenen Berner Verfassung nach 30 Jahren in einer Jubiläumsfeierlichkeit die gebührende Ehre erwiesen.
Gut 150 Gäste, darunter fast alle noch lebenden Mitglieder der damaligen Verfassungs-Kommission, hatten sich im Ratssaal des Berner Grossrats versammelt, um den in deutscher und französischer Sprache vorgetragenen Fest- und Fachbeiträgen zuzuhören.
Geladen hatte Prof. Dr. Christoph Auer, Staatsschreiber des Kantons Bern, der den Reigen an Rückblicken und historischen Einordnungen verschiedener Redner eröffnete.
Wozu braucht man eine Verfassung?
Wozu braucht man überhaupt eine Verfassung? Und wer liest sie? Solche und ähnliche Fragen sind legitim und notwendig und sie wurden direkt und indirekt von nahezu allen Festrednern des Anlasses gestellt.
Eine Verfassung, so kann man die Grundzüge der Frage zusammenfassen, ist ein Ausdruck bürgerlichen Selbstverständnisses in einer freiheitlichen Demokratie. In der Schweiz re!ektiert sie das Selbstverständnis eines Kantons und seiner Bürgerinnen und Bürger und drückt die Gedanken und Prinzipien aus, die eine grundlegende Anleitung für die gesamte Rechtsprechung darstellen.
Die Berner Verfassung formuliert das Selbstverständnis der Bernerinnen und Berner an verschiedenen Stellen eindrücklich. Sie beginnt zum Beispiel in der aktuellen Fassung mit folgenden Worten: «In der Absicht, Freiheit und Recht zu schützen und ein Gemeinwesen zu gestalten, in dem alle in Verantwortung gegenüber der Schöpfung zusammenleben, gibt sich das Volk des Kantons Bern folgende Verfassung:…» Die Berner Verfassung ist damit – neben anderen Grundlagen-Werken wie der Bundesverfassung und den Gemeindeordnungen – Grundlage der Rechtsprechung und vor allem Interpretationshilfe bei Verwaltungsakten. Viele Urteile der Berner Gerichte beinhalten einen Verweis auf die kantonale Verfassung, auch um die gefällten Urteile zu begründen. Die Schweiz als Ganzes ist im Verhältnis zur Landes!äche ohne Zweifel Weltmeisterin im Erstellen und Revidieren von Verfassungen: Seit dem Jahr 1803, als Napoleon die Mediationsakte erliess, haben die Schweizer Kantone und der Bund insgesamt über 230 Verfassungen produziert. Dabei sind die vielen nachträglichen Revisionen nicht mitgezählt.
Verfassungsrevisionen können scheitern - die der Berner ist gelungen
In Bern ist das Erstellen und das spätere Anpassen (das Revidieren) in einem beispielhaften Prozess gelungen. Zwei Beiträge aus dem Wallis zeigten aber auf, auf welch «rätselhafte Weise», so die Walliser Referenten, ein solcher Prozess auch scheitern kann.
Dr. Johan Rochel, Mitgründer des Appel Citoyen, und Dr. Emilie Praz, Präsidentin der Bürgerbeteiligungskommission und Mitglied des Präsidialkollegiums des Verfassungsrates Wallis, erläuterten fast humorvoll den zunächst erfolgreich erscheinenden, dann aber am 3. März 2024 überraschend gescheiterten Versuch. Dies, obwohl das Walliser Volk zuvor das Erstellen einer neuen Verfassung ausdrücklich gewünscht und einen Verfassungsrat eingesetzt hatte. Der Kanton Wallis hat damit noch heute die Verfassung von 1907.
Warum müssen wir die Verfassung weiterentwickeln?
Aber warum müssen wir Verfassungen überhaupt immer wieder revidieren? Sind sie – das ist schon fast eine ketzerische Frage – etwa von Anfang an «schlecht gemacht»? Mitnichten. Die Frage wurde im Laufe des Festakts je länger dieser ging, um so eindrücklicher gestellt. Und in einer abschliessenden Podiumsdiskussion waren es vor allem die jüngeren Teilnehmer, die klarmachten, dass diese Frage nicht nur eine für die juristische Fachwelt ist, sondern der öffentlichen politischen Diskussion bedarf. Unsere Wirklichkeit entwickelt sich weiter: Neue Technologien (Stichworte sind Digitalisierung, künstliche Intelligenz, Umweltfragen), Fragen der Gesundheitsfürsorge (Stichworte: Pandemien und generell Krankheitskosten), aber auch Fragen der inneren und äusseren Bedrohung sowie der Staatsfinanzierung drängen auch immer wieder dazu, die Grundlagen der Verfassungs-Formulierungen zu überdenken.
Jüngst kamen dann auch noch Fragen der Landessprachen und der nationalen und kantonalen Identität hinzu, wie die Diskussion um das Erlernen einer zweiten Landessprache mit Blick auf das Frühfranzösisch zeigt.
Generationenwechsel: Junge Akteure sind am Werk
An solchen Fragen kann man den Übergang zwischen den Generationen ablesen, welche die Ausgestaltung und Veränderung (Revision) einer Verfassung mitbestimmten können. Bezeichnend war dabei zum Beispiel der folgende Satz: «Maintenant que je suis devenu grand-père», « Jetzt, wo ich Grossvater geworden bin… », so leitete der von der deutsch-französischen Sprachgrenze bei Neuchâtel stammende alt Regierungsrat und frühere Regierungspräsident Mario Annoni seinen Beitrag über die Bedeutung der Landessprachen und Kulturräume des Kantons Bern ein.
Es war ein bezeichnender Satz, und fast ein Wendepunkt der abendlichen Diskussion, denn es sind die Jungen, welche am Ende des informativen Abends den Ton angeben: Dr. Rahel Freiburghaus, Tenure-Track-Assistenzprofessorin für Schweizer und Vergleichende Politik an der Universität Lausanne etwa, die ernsthaft erläuterte, wieso in ihren Augen die Schweizer Demokratie in einer ernstzunehmenden Gefahr sein könnte, auch weil die Polarisierung in der Gesellschaft immer mehr zunimmt. Und weil sie von einer Ver!achung der politischen Kultur begleitet wird. Freiburghaus schreibt darüber ein Buch, das 2026 erscheinen soll.
Oder die Juristin Dr. Eva Maria Molinari, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrbeauftragte an der Universität Basel und der Berner Fachhochschule für Soziale Arbeit. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Grundrechte, Verfassungsrecht (Schwerpunkt Sozialverfassung) und Interdisziplinarität der Rechtswissenschaften. Ihr besonderes Anliegen war vor allem, dass die Digitalisierung ein Potenzial mit sich bringt, welches das Grundrecht der Menschenwürde in Gefahr bringen könnte. Sie arbeitet deshalb intensiv daran, Verfassungsgrundsätze zu entwickeln, die in kommenden Revisionen Schweizer Verfassungen die Rechtsgrundlagen für eine Anpassung der Grundrechte liefern können. Gelingt die, so erläutert Molinari auch im späteren persönlichen Gespräch, ist auch der aktuellen Rechtsprechung sowie der politischen Willensbildung eine zusätzliche Handhabe gegeben. Und schliesslich der zurzeit ranghöchste Berner, Tom Berger (FDP), Stadtratspräsident Bern und Leiter Polit-Forum Bern, der deutlich darauf hinwies, dass die aktuelle politische Willensbildung und eventuell sogar die Rechtsprechung des Öfteren «viel zu langsam sei». Und noch deutlicher: «Bis wir hier entschieden haben, sind die Dinge, die wir entscheiden wollten, schon wieder überholt.»
Alt Bundesrat Schmid fordert den Blick auf das Wesentliche
Und so war der abschliessende Hinweis von alt Bundesrat und dem damaligen Präsidenten der Verfassungs-Kommission, Dr. Samuel Schmid, vielleicht ein zu beachtender Ratschlag: «Aus einer gewissen Distanz sage ich heute: Bringt doch nicht jeden Krimskrams in die Schlagzeilen. Sondern konzentriert euch in der Politik auf das Wesentliche!»
Der anschliessende Apéro war anders als vieles, was man sonst an gesellschaftlichem Small-Talk «hinunterschluckt»: Er war in allen Gesprächen sehr fachorientiert, teils visionär und das – humorvoll gesagt – nicht «am Grund eines Weinglases», sondern weil die Anliegen der Beteiligten so ausgeprägt diskutiert wurden. Und auch, weil die Berufs- und Lebenserfahrung der Teilnehmenden das ihre hinzutat. Es war ein Abend, der nicht durch Floskeln, sondern durch eine geballte Ladung Inhalt, Witz und Sachverstand geprägt war.

