«Kein einziges Röslein mehr ...»

  14.02.2023 Kultur

Im Zürcher Landesmuseum können BesucherInnen noch bis Ende April die Welt der alpinen Sagen erleben. Auch der Kanton Bern ist dort vertreten, etwa mit Gotthelfs «Schwarzer Spinne». Die bekannte Blüemlisalp-Sage kommt gar in mehreren Versionen vor – was für derlei Erzählungen durchaus typisch ist.

MARK POLLMEIER
«Diese Ausstellung enthält Bilder, die für Kinder nicht geeignet sein könnten.» So warnt ein Schild am Eingang – zu Recht! Die Welt der Sagen ist in eher düsteren Räumen untergebracht, und manches Ausstellungsstück in den gläsernen Vitrinen ist auch für Erwachsene gruselig.

Eine Sennenpuppe starrt den Betrachter aus toten Augen an, den Mund weit geöffnet. Sie stammt aus einem Maiensäss im Calancatal, und die zugehörige Sage vom Sennentuntschi findet sich in einem aufgeschlagenen Buch gleich daneben. «Aus Langeweile und Übermut basteln sich Älpler eine Puppe. Sie füttern sie mit Käse und Rahm, spielen und schwatzen mit ihr – und missbrauchen sie.» Ein Blick zurück zur Vitrine zeigt: Die ausgestellte Puppe soll offenbar weiblich sein. Erst beim zweiten Hinsehen entdeckt man die angedeuteten Brüste. «Zur Überraschung der Männer wird die Puppe plötzlich lebendig», heisst es weiter im Buch. «Sie rächt sich an einem der Sennen, tötet ihn und spannt seine Haut auf das Dach.» Spätestens hier wird klar, warum die Ausstellung Kinder verstören könnte. Das Sennentuntschi aus dem Calancatal verkörpert vieles, was an Sagen typisch ist. Zum einen existieren solche Erzählungen meist in vielen Varianten. Das Sennentuntschi etwa ist unter verschiedenen Namen im gesamten deutschsprachigen Alpenraum verbreitet. Oft greifen Sagen ein urmenschliches Verhalten auf – etwa das Bedürfnis, sich selbst ein menschliches Gegenüber zu erschaffen. Und weil das menschliche Verhalten häufig frevelhaft ist, haben viele Sagen auch eine erzieherische Botschaft: «Tu das nicht, sonst wirst du bitter bestraft werden!»

«So straft der Herr den Übermut»
Auch die Blüemlisalp-Sage vereint viele der genannten Elemente. Ihrem Namen nach ist sie auf der Blüemlisalp bei Kandersteg angesiedelt. Aber auch in diesem Fall finden sich ähnliche Stoffe im gesamten Alpenraum – nämlich überall dort, wo es vereiste und vergletscherte Berge gibt. Die Zürcher Ausstellung liefert den Beweis, dass solche Sagen unterschiedlich erzählt werden können, gleich selbst. In einem Begleittext findet sich die Version, die in unserer Region verbreitet ist. Sie handelt von der Unbarmherzigkeit eines Sohnes gegenüber seiner Mutter. Zur Strafe für dieses Verhalten verflucht die Mutter ihren Sohn und seine Frau, die einst «blumige» Alp wird in eine Stein- und Eiswüste verwandelt. Ewig ertönen seitdem die Klagerufe des untoten Übeltäters.

Wer sich an einer Hörstation die Kopfhörer aufsetzt, lernt eine ähnliche, aber doch etwas andere Geschichte kennen (siehe Spalte ganz rechts). In der dort erzählten Version verlor «unser Herr» ob diesem jungen Übermut die Geduld und liess die zuvor blühende Alp vereisen.

Die Vertreibung des Menschen aus dem Paradies – es ist ein uraltes religiöses Motiv, das in abgewandelter Form auch in vielen Sagen vorkommt. Weil der Mensch es allzu bunt treibt, statuiert Gott ein Exempel, worauf das einstige Idyll für immer verloren ist: «Kein einziges Röslein wächst mehr im Gletscher, denn so straft der Herr den Übermut.»

Wenn der Teufel im Spiel ist
Nicht alle Sagenstoffe haben pädagogische Absichten. Manchmal zeigt sich in ihnen schlicht der Versuch, das Unerklärliche zu erklären. So mag es auch bei der Geschichte vom Toggeli sein, die noch heute in der Innerschweiz erzählt wird. Das Toggeli ist eine Art Nachtgeist, der durch kleinste Ritzen oder duchs Schlüsselloch ins Haus schlüpft. Ist es einmal drinnen, plagt das Toggeli die Bewohner, indem es sich bleischwer auf ihre Brust setzt und ihnen den Atem raubt. Wer ein solches Erlebnis einmal hatte, berichtete später von Todesangst. Auf der Suche danach, was das Toggeli denn eigentlich sein könnte, landet man bei gesundheitlichen Problemen wie Krämpfen, Herzinfarkten oder Lungenleiden. Auch psychische Erkrankungen kommen infrage.

Die früheren Bewohner einsamer Alpentäler dagegen waren überzeugt, eine übernatürliche Gestalt treibe ihr Unwesen – vielleicht von jemandem geschickt, mit dem man Streit hat. Zur Abwehr des Toggeli ersannen sie allerlei Gegenstände, von denen einige im Landesmuseum ausgestellt sind, etwa ein Holzkreuz mit Nägeln, das man sich abends auf die Brust legte, damit das Toggeli sich dort nicht niederlassen konnte (entstanden nach 1950). Oder ein kunstvoll gearbeitetes Messer von 1859, das den nächtlichen Gast fernhalten sollte.

In die Kategorie der erklärenden Sagen fällt wohl auch jene von der Teufelsbrücke, die schon im 16. Jahrhundert über die Schöllenenschlucht zwischen Andermatt und Göschenen führte. Hoch oben über der reissenden Reuss einen stabilen Übergang zu bauen – das trauten viele nur dem Teufel zu. Die Geschichte von den Urnern, die mit dem Teufel einen Vertrag schlossen, um zu einer Brücke zu kommen, verselbstständigte sich später und wurde unter anderem eine Art Touristenattraktion, verewigt auf vielen Postkarten.

Der Apfelschuss stammt aus Dänemark
In einer Ausstellung zu Sagen darf einer natürlich nicht fehlen: Wilhelm Tell. Er steht für eine weitere Funktion des Sagenerzählens: Geschichte zu konstruieren. Eigentlich stammt die Sage vom Apfelschuss nämlich aus dem nordischen Raum. Ein um das Jahr 1200 entstandenes dänisches Geschichtswerk berichtet von dem Meisterschützen Toko, der seinem Sohn auf Befehl des Königs einen Apfel vom Kopf schiesst. Der Obwaldner Landschreiber Hans Schriber griff das Motiv 1470 in einem Buch auf – und legte damit den Grundstein für die Tell-Sage. Doch erst mit Schillers Drama von 1804 wird der vermeintliche Schweizer Nationalheld international bekannt.

Die Verehrung des Wilhelm Tell ging so weit, dass man sogar «Reliquien» von ihm ausstellte. So wird in Zürich etwa die «echte» Armbrust des Freiheitskämpfers gezeigt. Sie wurde als Attraktion herumgereicht; lange zweifelte niemand an ihrer Echtheit. Heute weiss man: Das Stahlbogengerät stammt aus Italien oder Spanien und wurde erst im 15. Jahrhundert gebaut.

Weitere Infos finden Sie auf www.frutiglaender.ch unter Web-Links.


«D Sag vo der Blüemlisalp»

Die Blüemlisalp, wie man sie heute kennt, ist ein weites, mit Gletschern bedecktes Schneegebiet. Doch nicht immer hat es dort oben so ausgesehen – woher sollte die Alp sonst ihren Namen haben?
Es gab eine Zeit, da waren die Berge der Blüemlisalp von Matten bedeckt, auf denen tausend und noch einmal tausend Blumen blühten. Und im Sommer glühten die Felsen rot von lauter Alpenrosen, und die Leute hatten grosse Freude an diesem Anblick. In jedem Frühling zogen die Hirten mit ihrem Vieh nach oben, und jeden Herbst kamen die Herden wohlgenährt zurück. Milch gab es, so fett wie keine, und Käse, so gross und würzig wie nirgends.
In all diesem Überfluss wurden die Hirten irgendwann übermütig. Die Mädchen trugen Ketten aus Silber und Gold, und die Buben gingen nur noch in feinsten Jacken zum Tanz. Eines Tages kam eine junge Frau ins Tal, um einen der Hirten zu heiraten. Als die prunkvolle Hochzeit gefeiert wurde, trug das Mädchen edle Schühchen aus feinstem Leder, die passten wie angegossen.
Einige Zeit später, als es nach oben auf die Alp gehen sollte, begann die junge Frau, sich zu beklagen: Sie könne mit ihren feinen Schuhen doch nicht aufsteigen zu «mis Uelis Sennehuus». Auf dem steinigen Weg könnte das Leder Schaden nehmen oder gar reissen. Ausziehen wollte sie ihre Schühchen aber auch nicht. Als die Buben die Klagen der jungen Frau hörten, beschlossen sie, dass sie doch weich auf die Alp laufen sollte. So brachen sie auf dem Weg nach oben in jeden Käsestall ein und plünderten die Vorräte. Und aus dem Käse bauten sie eine Treppe bis hinauf zur Blüemlisalp.
Am Morgen fand das Liseli den felsigen Pfad fein gepolstert vor, mit zierlichen Stufen, weiss wie Marmor, wie es selbst Könige und Kaiser nicht kennen. Darauf lief das Liseli auf die Alp, und kein Schuh nahm Schaden und kein Leder riss. Verrissen hat es aber die Nachsicht und Geduld unseres Herrn ob diesem jungen Übermut. Und plötzlich starb das Grün der Matten, die tausend und nochmal tausend Blüemli schlossen die Augen, die Alpenrosen verwelkten mitten im Sommer, wie getroffen vom tödlichen Frost, der dann auch wirklich kam.
Die Hirten und Herden konnten kaum fliehen, alles erstarrte, Schneefelder deckten die duftenden Matten zu und Gletscher legten sich über die Firne. Eine eisige Luft wehte, und der warme Atem des Lebens versiegte.
Die Treppe aus Käse aber wurde zu Granit, und wer heute hinaufsteigt zur Blüemlisalp, findet im Stein noch immer ihre Spuren.
Seit diesem Tag ist die Blüemlisalp ein unfreundliches und unzugängliches Eisgebirge. Kein einziges Röslein wächst mehr im Gletscher, denn so straft der Herr den Übermut.

AUFGEZEICHNET VON MARK POLLMEIER


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