Vom Zeitunglesen

In der Hoffnung, damit nicht meinen Job zu verlieren, muss ich jetzt mal sagen: Es ist in Ordnung, nicht immer Zeitung zu lesen. Und damit meine ich nicht, man soll sich jeder Art von Information verweigern – komplette Ignoranz hat uns noch nie irgendwohin gebracht. Ich meine auch nicht, dass es in Ordnung ist, wegzusehen, wenn Ungerechtigkeiten in der Welt geschehen (was momentan leider der Fall ist). Was ich ganz einfach damit meine: Es besteht keine Verpflichtung, zu jeder Tages- und Nachtzeit, sozusagen im Liveticker, über alle Weltgeschehnisse informiert zu sein.

Ich hörte mir vor einigen Wochen die «Sternstunde Philosophie» mit Thomas Fuchs zum Thema «Macht uns die Gesellschaft krank?» an. Ich bin nicht immer ein Fan dieser Sendung. Da die Diskussion diesmal aber entfernt in die Richtung meines Dissertationsthemas ging, hörte ich mir den Beitrag gerne an. Ich komme nicht über eine Aussage von Herrn Fuchs hinweg. Er sagte, dass die Menschheit sich eigentlich gar nicht schnell genug entwickeln konnte, um mit der konstanten Informationsflut umgehen zu können. Noch vor 100 Jahren war die hauptsächliche Quelle von Neuigkeiten eine Zeitung, die täglich erschien. Ausserdem waren die News oft regional – schon allein deshalb, weil Infos zu Geschehnissen vom anderen Ende der Welt doch einen Moment brauchten, um vermittelt zu werden. Noch vor 20 Jahren hörte meine Mutter im Autoradio, dass ein Flugzeug in die Twin Towers in New York City geflogen ist, sah aber die Bilder erst später im Fernseher. Dass dieses Ereignis unvorstellbar tragisch war, bestreitet niemand – das einzige, was ich mit dem Beispiel zeigen möchte, ist, dass tragische Dinge heute und damals passierten, aber wir jetzt einer anderen Art von Berichterstattung ausgesetzt sind: konstant, live, durch unsere digitalen Endgeräte immer sofort in unseren Händen, gleich vor unseren Augen, bewegt und in Farbe, in Echtzeit kommentiert.
Mir gehen die Hände aus, wenn ich an meinen Fingern abzählen möchte, wie viele meiner Freunde, Familienmitglieder und Arbeitskollegen mir schon gesagt haben: «Ich kann nicht mehr. Ich kann’s mir nicht mehr anschauen, sonst komme ich am Morgen nicht aus dem Bett.»

Bei einer so durchgehenden Nachrichtenversorgung fühlt es sich andauernd so an, als würde unsere Welt untergehen und der Dritte Weltkrieg und die atomare Auslöschung stünden kurz bevor. Und ich will jetzt auch gar nicht verharmlosen, was alles passiert – aber als Einzelperson darf man nicht unterschätzen, dass eine gewisse Überforderung mit dem konstanten Informationsfluss auch normal ist. Und überforderte Menschen reagieren meist auf eine von zwei Weisen: Entweder sie stumpfen ab und es ist ihnen egal, oder sie werden überlastet und krank. Keine Option ist gut oder hilfreich. Nichts von beidem hilft dem Individuum oder der Weltlage.

Deshalb würde ich vorschlagen: Bleiben wir informiert, aber nicht um jeden Preis. Es ist in Ordnung, die Zeitung für eine Woche wegzulegen. Es ist in Ordnung, die Push-Nachrichten auf dem Smartphone mal für eine Weile auszuschalten. Wenn wir einen Artikel dann nach drei Wochen lesen, ist er uns weder gleichgültig noch brechen wir gleich in Tränen aus. Wir sind vielleicht betrübt oder schockiert, aber wir können die Information als wichtig erkennen und weitertragen. Und für die, die dabei Angst haben, etwas zu verpassen, was ihr Leben akut beeinflussen könnte: Wenn der Bär dann bei euch die Mülltonne ausräumt, seht ihr das schon früh genug.

XENIA SCHMIDLI

SCHMIDLIX@HISPEED.CH

THE YOUNG VIEW - Vom Zeitunglesen

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