«Eins steht fest: Wir sind viel zu billig»

  30.06.2023 Wirtschaft

Kaum eine Branche ist so stark vom Personalmangel betroffen wie das Gastgewerbe. Der Kandersteger Hotelier und Gemeinderatspräsident René Maeder ist überzeugt: Es liegt an der mangelnden Wertschätzung und an den Gehältern. Bis diese Probleme gelöst sind, schlägt er eine umstrittene Massnahme vor.

BIANCA HÜSING
Mangelnde Erfahrung kann man René Maeder sicher nicht vorwerfen. Vor 46 Jahren kauften er und seine Frau Anne die kleine Pension Doldenhorn und entwickelten sie zu einem Vier-Sterne-Betrieb weiter. Jahrzehntelang führte Maeder das «Doldenhorn» sowie das benachbarte «Ruedihus», bis er den Betrieb 2022 an seinen Sohn und dessen Partnerin übergab. Gleichzeitig weibelte er stets auf Verbandsebene für die Interessen seiner Branche. Letzte Woche war er zu einem Podiumsgespräch des Cercle des Chefs de Cuisine Berne (CCCB) geladen und machte sich dort für einen nicht ganz unproblematischen Vorschlag stark: die Wiedereinführung des Saisonnierstatuts.

Herr Maeder, wie ist die personelle Lage in Ihren Betrieben respektive in den Betrieben Ihres Sohnes?
Wir haben viele Angestellte, die uns seit Jahren oder sogar Jahrzehnten die Treue halten. Trotzdem gibt es auch bei uns Fluktuation und Nachwuchsprobleme. Im Moment fehlen uns zwei KöchInnen, zwei gelernte Servicefachkräfte und zwei RezeptionistInnen. Diese Stellen sind extrem schwierig zu besetzen.

Woran liegts?
Oft wird versucht, den Fachkräftemangel mit Corona zu erklären. Es stimmt ja auch, dass sich viele Arbeitnehmer aus der Gastronomie während dieser Zeit umorientiert haben. Corona ist aber höchstens ein Teil des Problems.

Was ist der andere Teil?
Die Arbeitsbedingungen. Wir müssen dann arbeiten, wenn der Kunde Hunger hat – und das ist nun einmal abends und an den Wochenenden. Ein anderes Problem ist das Geld: Die Löhne in der Gastronomie bewegen sich am unteren Ende der Skala. Eine ausgelernte Servicekraft bekommt knapp 4400 Franken im Monat, und anders als in anderen Berufen steigt das Gehalt nicht mit zunehmender Berufserfahrung. Als Gemeindepolitiker sehe ich, was die öffentliche Hand für Berufe mit vergleichbarer Qualifikation bezahlt. Ein Werkhofmitarbeiter mit einigen Jahren Berufserfahrung verdient zum Beispiel 1000 Franken mehr.

Sie als Arbeitgeber hätten es doch in der Hand, die Bedingungen zu verbessern.
Nur zu einem kleinen Teil. Wir gehen schon über den Standard hinaus und haben unseren Mitarbeitern letztes Jahr eine zusätzliche Ferienwoche geschenkt. Aber an den grundsätzlichen Arbeitszeiten können wir nicht viel ändern, da müssen wir uns wie gesagt an den Kunden orientieren. Eine Vier-Tage-Woche, wie sie zurzeit oft gefordert wird, ist in unserer Branche nicht umsetzbar. Bei den Löhnen habe ich noch weniger Spielraum. Ich wäre sofort dafür, sie auf 5500 Franken anzuheben. Aber wenn ich das mache, muss ich die Preise entsprechend anpassen. Und was glauben Sie, was passiert, wenn ich einen Kaffee für 6,50 Franken verkaufe, den man in allen umliegenden Lokalen für 4,50 bekommt? Es bräuchte dafür schon eine gewisse Solidarität innerhalb der Branche.

Zwingen sich die Gastronomen durch Konkurrenz- und Preisdruck gegenseitig, Löhne unter dem Schweizer Standard zu zahlen?
Richtig. Und deshalb können wir hierzulande auch keine Arbeitskräfte rekrutieren. Für die Koch-Stellen hat mein Sohn eine Anfrage ans RAV gestellt. Daraufhin sind Alibi-Bewerbungen eingegangen, also solche, die ein Bewerber nur schreibt, weil er muss. Wir probieren es auch über andere Jobportale und posten schöne Werbefilmchen auf Social Media – aber einheimische Fachkräfte bekommen wir dadurch nicht.

Sondern ausländische?
Wenn wir über das Portal der «Relais & Châteaux»-Hotels inserieren, erhalten wir 30 verwertbare Bewerbungen – aber alle aus dem Nicht-EU-Ausland.

Und diese Bewerber kämen für ein Hotel im Berner Oberland infrage?
Vorausgesetzt, es gibt eine kulturelle Nähe zu Europa. Marokko oder Algerien zum Beispiel sind französisch geprägt, also käme ein Koch aus der Region sicher auch bei uns zurecht. Wir Schweizer müssen sowieso von unserem hohen Ross runterkommen: Spitzenköche gibt es nicht nur hier, sondern auf der ganzen Welt. Leider dürfen wir sie nicht beschäftigen. Der Bund hat zwar die Einstellungsbedingungen für Personal aus Drittstaaten gelockert. Das betrifft aber nur wenige ausgesuchte Branchen wie die IT oder das Gesundheitswesen. Was wir bräuchten, wäre eine Neuauflage des Saisonnierstatuts. Mit dieser Regelung konnte man Personen aus dem Ausland neun Monate im Jahr mit einem gültigen Arbeitsvertrag beschäftigen. Und um den Vorwurf rechter Kreise gleich vorwegzunehmen: Man würde damit nicht die Migration fördern, da der Aufenthalt begrenzt und der Familiennachzug erst nach mehreren Saisons möglich wäre.

Gerade wegen der strengen Regeln zum Familiennachzug ist das Saisonnierstatut stark in Verruf geraten. Bis zu 50 000 Kinder lebten dadurch illegal in der Schweiz, hatten keine Krankenversicherung und keinen Zugang zur Schulbildung. Der Filmemacher Beat Bieri, der eine Dokumentation zum Thema produziert hat, sagt: «Dieses System hat traumatische Biografien erzeugt.»
Ich bin sicher, dass es solche Schicksale während der Zeit des Tunnelbaus auch in Kandersteg gegeben hat. Das darf sich so natürlich nicht wiederholen. Bei einer Neuauflage des Saisonnierstatuts könnte man ja entsprechende Kompromisse im Parlament aushandeln. Zum Beispiel, dass ein legaler Familiennachzug schon nach zwei oder drei statt erst nach fünf Saisons möglich ist. Auch müssten die Saisonkräfte selbstverständlich zu denselben Bedingungen beschäftigt werden wie Einheimische – zu ihrem eigenen Schutz, aber auch zum Schutz der Einheimischen vor Lohndumping. Und damit das Ganze nicht aus dem Ruder läuft, müssten pro Betrieb bestimmte Kontingente festgelegt werden.

Mit Saisonkräften kann man schlecht vorausplanen. Nach einer Dauerlösung klingt das nicht.
Nein, das ist als temporäre Entlastung gedacht und beträfe auch nur einen Teil des Personals. Im «Doldenhorn» und im «Ruedihus» haben wir aktuell 13 MitarbeiterInnen aus der Schweiz, 37 aus EU- und EFTA-Staaten und 2 aus der Ukraine. Diese Jahreskräfte wären als Stammpersonal immer da. Dazu kämen dann vielleicht noch 5 Saisonniers.

Der Ausländeranteil in Ihren Betrieben überwiegt also schon heute.
Ja, und das bringt uns auch oft Kritik von Einheimischen ein. Wenn ich sie dann aber frage, welcher Schweizer bereit wäre, für 4400 Franken und zu gastgewerbeüblichen Zeiten zu arbeiten, kommt nicht mehr viel.

Womit wir wieder bei den Bedingungen wären – also beim Systemfehler in der Gastronomie.
Genau, die Einstellung von Saisonniers könnte uns nur kurz- und mittelfristig entlasten. Langfristig braucht es eine Aufwertung unserer Branche. Fernsehköche wie Jamie Oliver haben schon viel Positives für das Image des Kochberufs getan. Aber auch Servicefachkräfte hätten dringend mehr Anerkennung verdient. Sie tragen schliesslich nicht nur Teller von A nach B, sondern verstehen auch viel von Lebensmitteln und Weinen. Die Branchenverbände müssten mehr in Imagekampagnen investieren als in Abstimmungskämpfe, die sie eh nicht gewinnen können, zum Beispiel jenen gegen das Klimagesetz. Wenn die Wertschätzung für unsere Berufe steigt, sind die Gäste vielleicht auch bereit, mehr zu zahlen. Denn eins steht fest: Wir sind viel zu billig.

Hohe Preise sind noch kein Garant für gute Löhne.
Die müssten in Gesamtarbeitsverträgen angehoben werden. Dafür muss die Branche aber endlich an einem Strick ziehen.


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