«Ich spüre eine Sehnsucht nach eingemitteter Politik»

  31.01.2023 Politik

Am Donnerstag werden die Mitglieder der GLP Kanton Bern Jürg Grossen offiziell ins Ständeratsrennen schicken. Der Frutiger betreibt eine offene, moderate Politik und hat ein gewinnendes Auftreten. Punkten wird er dennoch nicht überall.

Seit 2011 ist er Nationalrat, seit 2017 präsidiert er die GLP Schweiz. Nun strebt Jürg Grossen den nächsten Karriereschritt an – den Einzug in den Ständerat. Seine Erfolgschancen sind nicht gross, aber grösser denn je. Die GLP befindet sich derzeit im Aufwind, die Prognosen sagen der noch jungen Partei am 22. Oktober einen Wahlsieg voraus. Entsprechend hoch sind Grossens Parteiziele angesetzt: Er will den aktuellen Wähleranteil von 7,8 Prozent auf über 10 Prozent erhöhen und – sollte das gelingen – Einsitz im Bundesrat.

Kurz vor der Nomination hat sich der «Frutigländer» mit Jürg Grossen getroffen und unter anderem herausgefunden, welche Stärke er den Oberländern zuschreibt, was er von Menschen hält, die sich aus Protest auf den Boden kleben, und ob er sich schon bald im Bundesrat sieht.

«Frutigländer»: Herr Grossen, Sie sind Frutiger. Macht Sie das verdächtig?
Jürg Grossen:
Ich hoffe es nicht! Warum eigentlich?

Mit dem Ex-Kommunikationschef Peter Lauener und Gemeinderat Markus Grossen erfahren derzeit gleich zwei Frutiger öffentliche Kritik. Sie haben jetzt die Möglichkeit, vorzeitig auszupacken.
Zu diesen Debatten möchte ich mich nicht äussern. Was mich betrifft, kann ich aber sagen: Ich versuche stets, korrekt zu handeln. Natürlich tritt man politischen Gegnern auch mal auf die Füsse. Doch das ist normal. Ob meine Vergangenheit Anlass zu grundsätzlicher Kritik gibt, müssen andere entscheiden.

Blicken wir somit in die Zukunft: Sie kandidieren für den Ständerat – nach 2015 zum zweiten Mal. Was unterscheidet die beiden Kandidaturen?
Diesmal rechne ich mir höhere Wahlchancen aus. Vor acht Jahren kandidierten zwei Bisherige, ich war zudem noch weniger bekannt. Heute ist das anders. Der Sitz von Hans Stöckli wird frei. Bald geht meine dritte Legislatur als Nationalrat zu Ende, seit 2017 präsidiere ich die GLP Schweiz. Der Bekanntheitsgrad hilft hoffentlich, denn Ständeratswahlen sind Personenwahlen.

Trotzdem: Die SVP schickt mit Werner Salzmann einen bisherigen Ständerat ins Rennen. Die Linke ist mit Flavia Wasserfallen und Bernhard Pulver ebenfalls gut aufgestellt. Die Erfolgschancen der politischen Mitte sind klein.
Wenn links sowie rechts gemeinsame Tickets zustande kommen, dann wird es anspruchsvoll – im ersten Wahlgang. Ich spekuliere allerdings auf den zweiten Wahlgang. Die beiden Lager würden dann je nach Situation noch eine Person ins Rennen schicken. Wenn ich im ersten Durchgang ein gutes Resultat erziele, dann ist etwas möglich.

Weshalb sollen die Leute nicht rechts oder links, sondern Mitte wählen?
Die Pole radikalisieren sich. Bundesrat und Parlament bringen keine vorwärtsorientierten Vorlagen mehr durch, in der Mitte entsteht damit viel Platz. Ich spüre eine gewisse Sehnsucht nach lösungsorientierter, eingemitteter Politik.

Diese Sehnsucht spürt die politische Mitte schon lange. Doch in den Wähleranteilen macht sie sich bislang nicht bemerkbar.
Noch zu wenig, doch das wird sich ändern. Die GLP ist eine relativ junge Partei. Entsprechend haben wir unser Wählerpotenzial noch nicht annähernd ausgeschöpft. Mittlerweile kennt man die Köpfe unserer Partei und auch unsere Positionen.

Wie hoch ist das Wählerpotenzial der GLP?
Politologen gehen von über 20 Prozent aus. Darin enthalten sind einerseits NeuwählerInnen, andererseits Frustrierte, die von anderen Parteien enttäuscht wurden.

Zurück zum Ständerat. Mit welchen Schwerpunkten ziehen Sie in den Wahlkampf?
Ich bin Unternehmer und ein Energiemensch, die Umwelt ist mir wichtig. Gerade solche Kräfte fehlen im aktuellen Ständerat zurzeit. Auch Wirtschaftsthemen wie beispielsweise die Steuerpolitik sind für mich zentral. Ehepaare haben heute teilweise keine Anreize, ihr Arbeitspensum zu erhöhen. Studien zeigen, dass mit einer Individualbesteuerung bis zu 50 000 Personen mehr am Arbeitsmarkt teilnähmen. Das wäre ein gutes Mittel gegen den Fachkräftemangel.

Die externe Kinderbetreuung gewänne dadurch an Bedeutung.
Ja. Ohne Subventionen geht es nicht und diese müssen künftig noch erhöht werden. Grosse Betriebe bieten teilweise zwar bereits eine interne Kinderbetreuung an. Doch KMU können sich das nicht leisten.

Ihr Steckenpferd ist wie bereits angetönt die Energiepolitik. Sie sind ja auch unternehmerisch in diesem Bereich tätig.
Ich möchte den Weg in die CO2-Neutralität konsequent verfolgen und auch als Unternehmer zeigen, dass sich Umweltschutz und Rentabilität nicht ausschliessen. Wichtig ist mir dabei zu erwähnen, dass ich die Wirtschaft mitnehmen und ihr nichts diktieren will. Es freut mich, dass der Wandel auch ohne gesetzliche Verbote stattfindet. Grosse Unternehmen wie Nestlé oder Swiss haben bereits freiwillig griffige Massnahmen zur CO2-Reduktion ergriffen. Die grossen Automobilhersteller werden künftig nur noch Elektrofahrzeuge produzieren, weil sich diese mehr lohnen. Wir brauchen eine starke Wirtschaft für den Wandel.

Man spricht in diesem Zusammenhang oft von Greenwashing. Der Vorwurf: Die Konzerne betreiben mit ihren Umweltschutzmassnahmen reine Imagepolitur. In Wahrheit wollen sie die alten Strukturen möglichst lange am Leben erhalten. Viele Experten sind bereits heute überzeugt, dass wir unsere CO2-Ziele nicht mehr erreichen können. Ist es nicht naiv, diesen Konzernen zu vertrauen?
Ja, es gibt Greenwashing und schlechte Beispiele und vieles geht zu langsam, das stimmt. Wir sollten deswegen aber nicht die Hände verwerfen und schlussfolgern, es sei nun für alles zu spät und es komme nicht gut. Wir müssen uns an den positiven Beispielen orientieren und schneller rennen!

Bei vielen jungen Leuten verfängt diese Haltung nicht mehr. Ihnen reicht es nicht, das bestehende System zu optimieren. Sie wollen ein neues System. Wie überzeugen Sie die junge Wählerschaft von Ihrer pragmatischen Politik?
In meinem Umfeld und in unseren Unternehmen können wir aufzeigen, dass sich Umwelt- und Klimaschutz lohnen und sich vieles bewegt. Ich stelle fest, dass dies auch viele junge Leute überzeugt. Schwieriger wird es bei jenen, die alles auf den Kopf stellen wollen und sich auf den Boden kleben. Diese Leute erreichen mit solchen Blockadehaltungen nichts.

Die zweite für Sie interessante Wählergruppe sind die Oberländer. Theoretisch müssten Sie über einen gewissen Lokalbonus verfügen. Doch viele Menschen scheinen hier von Ihren Ideen überfordert. Beispielsweise könne man sich als Privatperson Investitionen in alternative Energien kaum leisten.
Ich erlebe das anders, muss aber sicher noch viel Überzeugungsarbeit leisten. Gleichzeitig bin ich sicher: Wenn die Oberländer eines können, dann ist es rechnen. Und erneuerbare Energien und Elektromobilität lohnen sich ganz klar.

Aber eben: Die Investitionshürden sind hoch.
Unsere Firma hat da interessante Erfahrungen gemacht. Bei verschiedenen Liegenschaften übernahmen wir die Installation von Solarpanels und verkauften den Strom den EigentümerInnen zu einem für sie attraktiven Tarif. Später übernahmen die Liegenschaftsbesitzer-Innen die Anlagen dann trotz anfänglicher Widerstände. Es brauchte den Beweis, dass es funktioniert und rentiert, plötzlich war das Geld da.

Ich betone die Wichtigkeit der Solarenergie immer wieder: Würde die Schweiz sämtliche dafür geeignete Infrastruktur mit Panels bestücken, produzierten wir damit rund 100 Terrawattstunden Strom jährlich. Unser gegenwärtiger Verbrauch liegt bei 60 Terrawattstunden. Die Energieversorgung wäre also problemlos gewährleistet, selbst wenn wir nur die Hälfte des Solarpotenzials ausschöpfen und dieses mit unserer Wasserkraft optimal verbinden würden.

Das Parlament will die Solaroffensive zwar antreiben, begünstigt mit seinem neusten Gesetz aber vor allem den Bau gigantischer Parks in der Natur. Unterstützen Sie dieses Vorgehen?
Das Gesetz will die Verfahren beschleunigen, indem es etwa die Rechte potenzieller Verhinderer vorüberhegend etwas einschränkt. Ich finde diesen Schritt nötig. Der Vorteil von solchen Solarparks ist, dass sie in der Natur kaum bleibende Spuren hinterlassen. Zurzeit prüft man, ob die Panelbefestigungen ohne Beton im Boden verankert werden können. Sollten künftige Generationen einmal zum Schluss kommen, diese Anlagen brauche es nicht mehr, könnten sie also problemlos ohne Schäden abgebaut werden. Die versetzte Anordnung der Solarzellen ermöglicht es zudem Kühen und anderen Nutztieren, nach wie vor auf dieser Fläche zu weiden. Auch deswegen spricht für mich nichts gegen alpine Solaranlagen.

Wie beurteilen Sie das Potenzial der Windkraft im Frutigland?
Wäre unser Gebiet ideal geeignet, wüssten wir das längst. Gerade im Winter, wenn wir den Strom vor allem benötigen, ist es im Talboden aber oft fast windstill. Auf den Gipfeln ist das natürlich anders. Hier scheint es mir aber wichtig, dass man Standorte wählt, die bereits gut erschlossen sind.

Sie setzen nicht ausschliesslich auf einheimischen Strom, Sie unterstützen auch den internationalen Strommarkt. Ist das angesichts der bröckelnden Versorgungssicherheit nicht gefährlich? Zuerst schaut doch jeder Staat für sich.
Wir müssen unter dem Strich genügend Strom in der Schweiz produzieren, um in Notlagen über eine angemessene Reserve zu verfügen und nicht vom Ausland abhängig zu sein. Unser Stromnetz ist an über vierzig Punkten mit den Nachbarländern verbunden, wir importieren und exportieren im Duschschnitt jeden Tag die Hälfte des Schweizer Stromverbrauches. In der Jahresbilanz heben sich Export und Import bis heute auf. Wir sind also sehr stark in dieses europäische Stromsystem eingebunden. Ohne ein Stromabkommen bekommen wir ernsthafte technische und finanzielle Probleme.

Zum Schluss zu einem ganz anderen Thema: Sie wollen die GLP zurück in den Ständerat führen und den Wähleranteil auf über zehn Prozent erhöhen. Und Sie möchten ferner einen grünliberalen Vertreter in der Landesregierung. Wären nicht Sie der ideale Bundesrat?
Diese Frage stellt sich für mich nicht. Ich habe grössten Respekt vor diesem Amt. Ich fordere den Bundesratssitz nicht für mich, sondern für die GLP.

Vor allem sitzt mit Albert Rösti bereits ein Oberländer im Bundesrat. Das wäre dann wohl zu viel …
Zu viel Oberland gibt es nicht (lacht).

Wie beurteilen Sie eigentlich den ersten Auftritt Röstis am WEF?
Ich kann das nur von der Ferne aus beurteilen. Doch er wirkte auf mich sehr sympathisch und authentisch.

Und seine politische Stossrichtung?
Wir haben unsere Differenzen, das ist klar. Doch ich habe Albert Rösti bei der Wahl unterstützt, dazu stehe ich nach wie vor. Ich bin überzeugt, dass er seine Sache gut machen wird. Gleichzeitig werden wir sicher noch die eine oder andere politische Auseinandersetzung austragen. Das gehört halt einfach dazu.

INTERVIEW: JULIAN ZAHND


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