Ist die Gletscherschmelze hausgemacht ?

Wie ein Mahnfinger ragte der Spitze Stein einst hoch über dem Oeschinensee und Kandersteg in den Himmel. «Für wie lange noch?», lautete die bange Frage seit dem Sommer 2018 – damals entdeckte man, dass das Gelände um die markante Felsnadel stärker in Bewegung geraten war. Wie lange noch? Kurz vor Weihnachten 2019 erfolgte eine erste Antwort: Ein verhältnismässig kleiner Abbruch sorgte dafür, dass der Mahnfinger seine Spitze verlor.
Dieses Ereignis war nur eines von vielen Signalen. Auf und unter dem Boden bewegt sich seit Längerem einiges. Bereits 1989 haben engagierte und besorgte Menschen aus dem Alpenraum die Volksinitiative «Zum Schutz des Alpengebietes vor dem Transitverkehr» lanciert, also lange vor der heutigen CO2-Diskussion. Der heute als «Alpen-Initiative» agierende Verein mit Sitz in Altdorf setzt sich hartnäckig für die Umsetzung des Verfassungsartikels zum Schutz des alpinen Lebensraums ein. Ein grosses Ziel ist nach wie vor die Reduktion der Lastwagenfahrten durch die Tunnel am San Bernardino und dem Gotthard sowie über den Simplonpass auf 650 000 pro Jahr. So steht es im Gesetz. Auch wenn der Trend grundsätzlich stimmt, sind wir leider noch nicht so weit: Im Jahr 2021 fuhren 860 000 LKW durch die Schweizer Alpen, also 210 000 zu viel. Zwischen 2014 und 2019 ist der Anteil der Transitfahrten – also von Grenze zu Grenze, von Deutschland nach Italien und umgekehrt – im a lpenquerenden Strassengüterverkehr zwar überraschenderweise von 49 auf 41 Prozent gesunken. Das heisst aber auch: Der innerschweizerische Verkehr mit dem Tessin sowie die Import- und Exportfahrten aus der Schweiz sind in der gleichen Zeitperiode auf demselben Niveau verharrt – also hat hier keine Verkehrsverlagerung von der Strasse auf die Schiene stattgefunden.
So liegt der Ball nun klar auf unserer Spielfeldhälfte. Das ist jedoch rascher geschrieben als umgesetzt. Wir können den Schweizer Transporteuren den Schwarzen Peter nicht per se zuschieben. Denn auch unsere Camionneure nutzen die Stärken der Bahn wie etwa den Nachtsprung. So können sie Sendungen trotz Nachtfahrverbots rasch und zuverlässig auf der Nord-Süd-Achse befördern. Alle bedeutenden Schweizer Fuhrhalter nutzen heute die Schiene – teils für mehr als die Hälfte ihrer innerschweizerischen Fahrten. Ihrer positiven Einstellung zur Verlagerung stehen allerdings die kurzen Distanzen in unserem kleinen Land entgegen. So muss ein beladener Container zuerst vom Abgangsort auf der Strasse an ein Terminal gefahren, dann auf den Bahnwaggon gekrant, auf der Schiene in das Terminal im Tessin gefahren, auf den LKW umgeschlagen und schliesslich auf der Strasse zugestellt werden. Der Bahnanteil liegt zwischen dem Mittelland und der Magadinoebene nur bei etwa der Hälfte der Gesamtstrecke. Somit ist zusätzliches Verlagerungspotenzial aus logistischen, zeitlichen, ökonomischen und unter dem Strich sogar ökologischen Gründen nur beschränkt vorhanden.
Vor diesem Hintergrund frage ich mich, ob es eine Lösung zur Stabilisierung des Gebiets Spitzer Stein – als Beispiel für den Klimawandel und seine Auswirkungen – gibt. Ich weiss es nicht. Ich bin aber überzeugt, dass wir mit unserem Wissen und dem Mut zu Innovationen, mit Beharrlichkeit und finanziellem Engagement sehr viel unternehmen können, um die hausgemachte Erderwärmung zu bremsen. Deshalb braucht es die Alpen-Initiative, die uns rasch realisierbare Massnahmen vor Augen führt – auch mit dem Ziel, dass die Gletscherschmelze vom reissenden Bach zum Rinnsal wird und die Überbleibsel des Spitzen Steins ihre Rolle als Mahnmal noch lange behalten.

KURT METZ

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