1031 kleine Kurgäste in Adelboden
10.10.2025 AdelbodenVor 80 Jahren nahm die Schweiz geschwächte und krankheitsgefährdete Kinder aus einigen durch den Weltkrieg zerstörten französischen Städten auf. Über 1000 von ihnen wurden in Adelboden wieder raufgepäppelt – eine gewaltige Leistung aller ...
Vor 80 Jahren nahm die Schweiz geschwächte und krankheitsgefährdete Kinder aus einigen durch den Weltkrieg zerstörten französischen Städten auf. Über 1000 von ihnen wurden in Adelboden wieder raufgepäppelt – eine gewaltige Leistung aller Beteiligter.
HANS RUDOLF SCHNEIDER
Im Sommer 1945, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, traf in Adelboden ein besonderer Zug der Hoffnung ein: 1031 französische Kinder im Alter von zwei bis vierzehn Jahren aus kriegsversehrten Gebieten kamen in das Bergdorf, um dort wieder zu Kräften zu kommen. Sie stammten aus den ärmsten Verhältnissen von Paris, Lyon und Marseille. Die meisten waren unterernährt, vielen drohte von anderen Familienmitgliedern übertragene Tuberkulose oder sie litten an den seelischen Folgen des Krieges. Was ihnen in Adelboden begegnete, war Wärme, Sicherheit – und ein Stück wiedergewonnene Kindheit.
Die Aufnahme war Teil einer gross angelegten humanitären Aktion der Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK), das seit 1942 die gesamte Hilfstätigkeit für kriegsgeschädigte Kinder koordinierte. Nach Jahren des Krieges öffneten sich 1945 die Grenzen wieder. Bisher war nur noch beschränkte Hilfe vor Ort möglich gewesen. Sofort begann die Kinderhilfe, Transporte aus den am schwersten betroffenen Regionen Europas zu organisieren. Frankreich stand dabei im Zentrum. Insgesamt wurden rund 63 000 französische Kinder in die Schweiz gebracht – mehr als aus jedem anderen Land.
Adelboden eignete sich besonders
Für besonders geschwächte Kinder richtete das SRK eigens Heime in Kurorten ein. Adelboden bot dafür ideale Bedingungen: saubere Höhenluft, ausreichend Platz, ärztliche Betreuung durch sechs Ärzte unter Leitung des Dorfarztes Dr.
Joseph von Deschwanden und eine Bevölkerung, die mit bemerkenswerter Hilfsbereitschaft reagierte. Zudem hatte man im Lohnerdorf bereits Erfahrungen gesammelt, was die medizinische Betreuung von Kindern angeht (siehe Kasten). Die französischen Kinder, die im Herbst 1945 nach Adelboden kamen und in acht von der Aktion belegten Hotels untergebracht wurden, bildeten die erste grosse Tranche einer sogenannten Hospitalisierungsaktion für «praetuberkulöse Kinder». Ferner wurden Asthma, Bronchitis, Blutarmut, geschwächte Konstitution sowie durch den Krieg Zurückbleiben bei der Entwicklung konstatiert.
Finanziert wurde die Aktion von der Schweizer Spende, unterstützt von Freiwilligen, Lehrpersonen, Pflegepersonal und Familien aus der Region. Während sechs Monaten wurden die Kinder in Heimen und Ferienhäusern betreut, medizinisch versorgt und täglich ausreichend ernährt – ein kaum vorstellbarer Luxus für jene, die zuvor unter Mangel und Angst gelebt hatten. Neben Milch, Brot und warmer Kleidung erhielten sie vor allem eines: Ruhe. Diese und das Still-Liegen seien «beinahe das Ausschlaggebende» für die Erholung, heisst es in einem Dokument. Zudem sei festgestellt worden, dass in einem Hotel, das besonders Gewicht auf gute Ernährung legte, die Kurerfolge besser gewesen seien.
Viele von ihnen nahmen zum ersten Mal seit Jahren an regelmässigen Mahlzeiten teil, schliefen in einem richtigen Bett und konnten wieder spielen. Ärzte des SRK berichteten, dass sich ihr Gesundheitszustand rasch verbesserte; zahlreiche Kinder kehrten gestärkt und mit neuem Lebensmut in ihre Heimat zurück. Unter Beobachtung waren vor allem die Lungenfunktionen, die sich bei einem Grossteil der Kinder laut den Ärzten deutlich besserte. Aus medizinischer Sicht wurde der umfangreichen Aktion Erfolg diagnostiziert. Neben der körperlichen Pflege wurde auch in «erzieherischer Hinsicht» für die Kinder gesorgt, wie es in einem Dokument heisst. Konkret wurden Schulklassen geführt, wobei es sich zeigte, dass viele der Kinder weder lesen noch schreiben konnten. Rund 250 verliessen das Oberland bereits nach drei Monaten, andere durften länger als die geplanten sechs Monate bleiben, um sich zu erholen.
Ort der Heilung und Menschlichkeit
Der Aufenthalt in Adelboden wurde zum Vorbild für weitere ähnliche Aktionen. Schon im darauffolgenden Jahr folgten 400 polnische und 200 englische Kinder, ebenfalls zur Genesung nach Adelboden entsandt. Die Betreuung dieser Gruppen machte das Dorf über die Landesgrenzen hinaus bekannt als Ort der Heilung und Menschlichkeit. Insgesamt beherbergte die Schweiz bis 1946 rund 100 000 kriegsgeschädigte Kinder aus ganz Europa. Etliche Dokumente im Bundesarchiv und Medienberichte dokumentieren das Ausmass der Hilfeleistung, und der Schlussbericht von 1946 über die Aktion ist beeindruckend.
Die Dimension der schweizerischen Kinderhilfe war enorm. Allein das SRK investierte geschätzte 50 Millionen Franken, weitere 10 Millionen Franken kamen aus der Schweizer Spende, und die Gastfamilien trugen schätzungsweise 30 Millionen Franken selbst. Über 100 Millionen Franken flossen insgesamt – eine humanitäre Leistung von historischer Bedeutung – gerade auch in der Zeit kurz nach dem Weltkrieg.
Geschichte mit grosser Wirkung
Für viele Adelbodnerinnen und Adelbodner blieb diese Zeit nach dem Weltkrieg unvergessen. Zeitzeugen berichteten später von fröhlichen Stimmen auf den Schulhöfen, von improvisierten Sprachkursen und von herzlichen Begegnungen, trotz aller Verständigungsschwierigkeiten.
Einige Familien hielten über Jahre Kontakt zu «ihren» französischen Kindern, schrieben Briefe, schickten Päckli oder empfingen sie erneut in den Ferien. Heute, achtzig Jahre später, ist diese Episode weitgehend in Vergessenheit geraten. Die über 1000 Kinder stehen sinnbildlich für den Geist der Solidarität, der aus der Schweiz hinausstrahlte. Adelboden war somit nicht nur ein Ort der Erholung, sondern insbesondere auch ein Ort der Menschlichkeit.
Inmitten der Alpen wurde Geschichte geschrieben – leise, aber mit grosser Wirkung. Die Kinder, die schwach und verängstigt ankamen, verliessen das Frutigland mit gestärktem Körper, neuen Kleidern und einem Lächeln. Die Halboder Vollwaisen nahmen dabei ein Stück Schweiz mit in ihr Leben – und in eine meist ungewisse und schwere Zukunft in ihren teilweise zerstörten Heimatländern.
Die «Kinder-Versuchsstation»
Adelboden und seine Höhenlage waren bereits vor der 1000-Kinder-Aktion im Fokus der Mediziner. Das eidgenössische Amt für Verkehr (lange auch für die Tourismusförderung zuständig) schlug 1942 vor, dass eine Kinderkurstation in Adelboden eingerichtet werden sollte. Den Anfang machte eine kleine Gruppe Kinder aus dem Mittelland im Pro-Juventute-Heim (als einzigem der zehn damals bestehenden Kinderheime). In den Akten im Bundesarchiv wird dafür der heute eigenartig anmutende Begriff «Versuchs- und Untersuchungsstation für Kinder» verwendet. Im Mittelpunkt stand die wissenschaftliche Abklärung der Wirkung verschiedener Höhenlagen im Hinblick auf den Ausbau von Höhenkurorten. Für eine Versuchsdauer von vier Jahren ab dem 1. Juni 1943 wurde dem Schularzt Dr. med. Lauener der Stadt Bern als Projektleiter 200 000 Franken Bundesgelder zur Verfügung gestellt. Beteiligt waren verschiedene Professoren unterschiedlicher Fachgebiete. Vor Ort einbezogen wurde vor allem der Dorfarzt Dr. Joseph von Deschwanden. Dieser betrieb seit längerem klimatobiologische Studien und war dafür bestens geeignet. Die Kinder wurden vor, während und nach der sechs oder mehr Wochen dauernden Beobachtungszeit genau untersucht. Der Erfolg der Kur
– «Konstitutionsverbesserung, verminderte Anfälligkeit, Dauerheilung einer Störung» – wurde festgehalten, dabei das Wetter und die Jahreszeit mit einbezogen. Damit war eine Grundlage gelegt, um die anschliessende Aktion mit den ausländischen Kindern zu unterstützen. Ein Resultat nach Abschluss der Versuche war, dass sich die Gebirgshöhenlage um 1400 Meter über Meer definitiv nicht für alle Leute eigne und die Kurerfolge bei unterschiedlichen Nationen auch verschieden ausgefallen waren.
HSF