Die Schweiz kann es – aber will sie auch?
05.06.2018 AnalyseManchmal genügen ein paar Medienmitteilungen, um die ganze Bandbreite eines Problems zu erfassen. Exemplarisch zeigt sich dies bei der Kandidatur für Olympia.
Am 23. Mai gab der Bundesrat bekannt, er wolle «Sion 2026» mit bis zu 994 Millionen Franken unterstützen. Kaum ...
Manchmal genügen ein paar Medienmitteilungen, um die ganze Bandbreite eines Problems zu erfassen. Exemplarisch zeigt sich dies bei der Kandidatur für Olympia.
Am 23. Mai gab der Bundesrat bekannt, er wolle «Sion 2026» mit bis zu 994 Millionen Franken unterstützen. Kaum war die Meldung in der Welt, lief die Meinungsmaschinerie an. In kurzer Folge gingen im Postfach der Redaktion zahlreiche E-Mails ein, in denen es um die Schweizer Olympiakandidatur ging. «Einmalige Chance», «riesige Fehlinvestition» – die Reaktionen hätten unterschiedlicher nicht sein können. Dass die Positionen so konträr sind, liegt an den verschiedenen Blickwinkeln, aus denen man die olympischen Spiele betrachten kann. Unter finanziellen und wirtschaftlichen Aspekten scheint die Sache klar. Ob Steuermehreinnahmen, Wirtschaftsbelebung oder Impulse auf den Tourismus – die positiven Effekte des Sportereignisses werden fast immer grösser eingeschätzt als sie tatsächlich sind. So rechnet eine Potenzialbeurteilung von Swiss Olympic mit zusätzlichen Steuereinnahmen von 200 bis 270 Millionen Franken – weit weniger, als die Kantone für die Austragung berappen müssten. Umgekehrt neigen die Olympia-Befürworter dazu, die Kosten kleinzurechnen. Die Universität Oxford hat vor zwei Jahren sämtliche Olympischen Spiele (Sommer und Winter) seit 1960 untersucht. In nahezu allen Fällen lagen die Ausgaben weit über dem Budget. Die durchschnittliche Kostenüberschreitung betrug effektiv 179 Prozent, wobei London 2012 und vor allem Sotschi 2014 noch weit über diesem Wert lagen.
Natürlich ist jeder Austragungsort im Vorfeld überzeugt, dieses Phänomen im Griff zu haben und das Budget einzuhalten. Keine Bewerbung kommt heute ohne Wundervokabeln wie nachhaltig oder ressourcenschonend aus. Auch hält man vielerorts grosse Stücke auf die bereits vorhandene Infrastruktur. So ist man in der Schweiz überzeugt, dass hierzulande alles ganz anders laufen würde als bei früheren Winterspielen. Der Bundesrat sieht die Schweiz gar «als Vorreiterin einer neuen Generation Olympischer Spiele». Indes: Die Statistik spricht dagegen, und allein das gibt den Kritikern Auftrieb.
Doch es geht schliesslich nicht nur ums Finanzielle, um Impulse für die Wirtschaft. Auch die beteiligten Sportarten erhoffen sich von der Austragung der Winterspiele einen Push-Effekt – nicht ganz zu unrecht. Selbst der Luzerner Tourismus-Professor Jürg Stettler, der sonst kein gutes Haar an Sion 2026 lässt, gibt zu, dass der Wintersport von der Austragung profitieren könnte. Stettler verweist dabei auf andere Schweizer Grossanlässe der letzten Jahre. So habe die «Euro 2008» die Fussball-Jugendarbeit beflügelt und den Frauenfussball populärer gemacht. Dank der Leichtathletik-EM 2014 in Zürich sei die Abwärtsspirale dieses Sportsegments in der Schweiz gestoppt worden.
Mit Sion 2026 könnte Kandersteg also seine Kompetenz bei der Austragung von Skisprung-Wettbewerben weiter erhöhen, das Obergoms sich als Destination für Langlauf-Meisterschaften etablieren. Mit etwas Glück würde beides eine gewisse Sogwirkung in der Nachwuchsarbeit entwickeln. Es braucht eben Vorbilder und eine gewisse mediale Präsenz, damit talentierte junge Menschen sich für eine Sportart interessieren. Sion 2026 könnte beides bieten. Was für den Sport gilt, trifft auch auf bestimmte Wirtschaftsbranchen zu, allen voran den Tourismus. Zweifellos könnte man Kooperationen auch ohne Olympia vorantreiben, neue Ideen entwickeln und sich überlegen, wie der Digitalisierung zu begegnen sei. Aber manchmal braucht es eben einen Initialfunken, einen Anlass mit einem klaren Zeithorizont, um den Weg für solche Entwicklungen frei zu machen – die Winterspiele als Katalysator.
Bleibt schliesslich noch das weite Feld des Idealismus. «Es wird höchste Zeit, dass die Winterspiele zurück zur Wiege gelangen – zurück in die Alpen», sagte Adolf Ogi Ende Mai dem «Blick». Diese Sichtweise hat durchaus ihre Anhänger. Wenn die Schweiz, das Mutterland des Wintersports, nicht mehr Willens sei, diesen Event zu stemmen – wer dann? Man kann es auch etwas drastischer formulieren. In seiner Agenda 2020 propagiert das Internationale Olympische Komitee (IOC) nachhaltige und umwelt- und sozialverträgliche Sportevents. Daran gemessen dürften die Winterspiele fortan nicht mehr in subtropischen Despotenstaaten stattfinden. Stattdessen wäre die Schweiz ein idealer Austragungsort, der beim IOC gute Chancen haben sollte. «Es würde unserem Land guttun, wieder einmal zusammenzurücken und einen internationalen Grossanlass durchzuführen», findet auch TALK-Direktor Urs Pfenninger und hat damit eher den Gemeinschaftsgedanken im Blick. Auch der Bundesrat betont diese Facette der Olympiabewerbung: «Das gemeinsame Gestalten der Schweiz der Zukunft kann zu einer erstarkten Solidarität im Land beitragen», heisst es in seiner Botschaft über die Olympia-Beiträge des Bundes. Die Spiele als identitätsstiftender Faktor. Gerade für ein so heterogenes Land wie die Schweiz hört sich dieses Argument halbwegs plausibel an. Die Sache ist nur: Wirklich belegen lässt sich dieses Wir-Gefühl nicht. Ob etwa die Fussball-EM 2008 den Zusammenhalt des Landes nachhaltig gestärkt hat, dürfte schwer nachzuweisen sein. Überhaupt: Wenn Sion 2026 eine solche Wirkung entfalten sollte, müsste die Schweizer Kandidatur deutlich mehr positiven Schwung entwickeln. Das hat offenbar auch SwissSki erkannt. Vor dem Wochenende versandte der mächtige Sportverband eine Medienmitteilung. «Zeit, das Feuer für Sion 2026 zu entfachen!», lautete die etwas bange Überschrift. Tatsächlich ist es dafür höchste Eisenbahn. Glaubt man den Umfragen, könnte das Wallis die olympische Flamme nämlich ausblasen, bevor sie überhaupt entzündet wurde.
Zur Vertiefung des Themas finden Sie in unserer Web-Link-Übersicht eine Studie im Auftrag von Swiss Olympic: «Olympische Winterspiele 2026 in der Schweiz. Eine Vorabschätzung der möglichen volkswirtschaftlichen Wirkungen sowie des langfristigen Vermächtnisses.»
MARK POLLMEIER
Die Abstimmungen in Kandersteg und dem Wallis
Das kommende Wochenende entscheidet über die Fortführung der Schweizer Olympia-Kandidatur. Am Freitag wird sich zunächst die Kandersteger Bevölkerung zu den Schweizer Olympiaplänen äussern. Eine ablehnende Haltung wäre für Sion 2026 zwar ein Dämpfer, grundsätzlich bliebe die Durchführung aber weiter möglich.
Grosse Bedeutung hat die Olympiafrage allerdings für die Kandersteger Schanzenanlage. Würden die Winterspiele 2026 tatsächlich in der Schweiz stattfinden, die Nordic Arena aber als Sportstätte ausfallen, müssten die olympischen Wettbewerbe in Engelberg stattfinden. Für den Standort Kandersteg wäre das ein schlechtes Signal – die Pläne für den Aufbau eines Nordisches Kompetenzzentrums könnte man wahrscheinlich begraben.
Weit wichtiger als die Kandersteger Gemeindeversammlung ist der kommende Sonntag, wenn die Walliser Stimmbürger über einen Millionenkredit zugunsten von Sion 2026 abstimmen. Sagt das Wallis nein, gibt es keine Chance mehr für die Durchführung der Winterspiele. Die Schweizer Bewerbung wäre damit hinfällig.
Medienmitteilungen rund um Sion 2026
«Die Olympischen Spiele in der Schweiz sind eine einmalige Chance, um Schweizer Lebensmittel sowie touristische Dienstleistungen positiv in Szene zu setzen und so Synergien zwischen Tourismus, Gastgewerbe und Landwirtschaft zu stärken.»
GEMEINSAME ERKLÄRUNG VON GASTROSUISSE, HOTELLERIESUISSE UND AGRO-MARKETING SUISSE VOM 23. MAI 2018
«Der Bundesbeitrag an Sion 2026 ist eine riesige Fehlinvestition. Eine Milliarde für einen Anlass von wenigen Wochen auszugeben – und dies, ohne die Schweizer Bevölkerung zu befragen – ist unverantwortlich und nicht nachhaltig.»
IRÈNE KÄLIN, NATIONALRÄTIN, GRÜNE SCHWEIZ, AM 23. MAI 2018
«Die Durchführung Olympischer und Paralympischer Winterspiele 2026 ist eine Chance für den Kanton und für die Schweiz (...) Unser Land bietet beste Voraussetzungen für finanziell tragbare und ressourcenschonende Olympische Winterspiele.»
TOURISMUS-DESTINATIONEN KANTON BERN, MITTEILUNG VOM 23. MAI 2018
«58 Prozent der Walliserinnen und Walliser sagen derzeit Nein oder eher Nein zum Kredit, 42 Prozent sind dafür oder eher dafür. An der Umfrage von Mitte Mai nahmen 2769 stimmberechtigte Personen teil.»
UMFRAGE DES FORSCHUNGSINSTITUTS SOTOMO ZUM OLYMPIAKREDIT DES KANTONS WALLIS, VERÖFFENTLICHT AM 23. MAI 2018