Medikamente am Steuer – eine unterschätzte Gefahr
19.06.2018 Gesundheit150 schwere oder tödliche Verkehrsunfälle stehen jährlich in der Schweiz mit der Einnahme von Medikamenten oder Drogen in Zusammenhang. Eine neue Kampagne soll LenkerInnen nun für das Thema sensibilisieren.
Es gibt kein Gesetz, das die Teilnahme am Strassenverkehr bei ...
150 schwere oder tödliche Verkehrsunfälle stehen jährlich in der Schweiz mit der Einnahme von Medikamenten oder Drogen in Zusammenhang. Eine neue Kampagne soll LenkerInnen nun für das Thema sensibilisieren.
Es gibt kein Gesetz, das die Teilnahme am Strassenverkehr bei Einnahme von Medikamenten generell verbietet oder einschränkt. Das Strassenverkehrsgesetz legt jedoch die Voraussetzungen für Verkehrsteilnehmer klar fest: «Über Fahreignung verfügt, wer die erforderliche körperliche und psychische Leistungsfähigkeit zum sicheren Führen von Motorfahrzeugen hat» (Art. 14).
Jede Lenkerin und jeder Lenker ist selbst verantwortlich und muss am Steuer jederzeit voll leistungsfähig sein. Medikamente können die Fahrfähigkeit beeinflussen und sicheres Fahren einschränken. Verminderte Aufmerksamkeit, verlangsamte Reaktionsfähigkeit, reduzierte Urteilsfähigkeit, eingeschränkte Selbstkontrolle oder eine Konzentrationsschwäche sind gefährliche Risikofaktoren.
Die Beratungsstelle für Unfallverhütung (bfu) lanciert deshalb ab 21. Juni gemeinsam mit dem Schweizerischen Apothekerverband pharmaSuisse und der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte FMH die breit angelegte Präventionskampagne «Fahren unter Medikamenteneinfluss».
Lenker unterschätzen die Wirkung von Medikamenten auf ihre Fahrfähigkeit
Fast jedes fünfte Medikament kann die Fahrleistung beeinträchtigen. Dies ist vielen LenkerInnen nicht bewusst, und die Auswirkungen auf die Fahreignung werden häufig verkannt. Die Resultate einer 2017 durch die bfu in Auftrag gegebenen Studie lassen aufhorchen: Die regelmässige Einnahme von Medikamenten führt zu Verharmlosung, Medikamenten wird ein geringerer Einfluss auf die Fahrfähigkeit zugeschrieben als Alkohol und das medizinische Fachpersonal nimmt (erstaunlicherweise) seine Rolle als wirkungsvolle Respektsperson zu wenig wahr.
Nichtbewusstsein und Fehleinschätzungen werden zur potenziellen Gefahr für sich selber und für Dritte. Wer wegen der Einnahme von Medikamenten in fahrunfähigem Zustand trotzdem fährt, macht sich unmissverständlich strafbar. «Eine schwere Widerhandlung begeht, wer wegen Betäubungs- oder Arzneimitteleinfluss oder aus anderen Gründen fahrunfähig ist und in diesem Zustand ein Motorfahrzeug führt» (Strassenverkehrsgesetz Art. 16c). Es droht der Entzug des Führerscheins und bei Unfällen persönliche und rechtliche Konsequenzen.
«Dieses Medikament kann die Fahrtüchtigkeit beeinflussen»
Ein Medikament einzunehmen, ist kein harmloses Unterfangen. Wer trotzdem ein Fahrzeug sicher lenken will, muss sich vorher über Wirkungen und Nebenwirkungen informieren. Fehlt die Aufklärung durch eine medizinische Fachperson bei der Verordnung oder der Abgabe, müssen Patienten (in der Schweiz) leider mühsam im Kleingedruckten der Packungsbeilage nach dem folgenden Passus suchen: «Dieses Arzneimittel kann die Reaktionsfähigkeit, die Fahrtüchtigkeit und Fähigkeit, Werkzeuge oder Maschinen zu bedienen, beeinträchtigen!» In Frankreich prangen praktischerweise gelbe, orange oder rote Piktogramme auf den Packungen. Sie sind mit den jeweiligen Aufschriften «Seien Sie vorsichtig», «Seien Sie sehr vorsichtig» oder «Fahren Sie nicht» versehen.
Jeder Mensch reagiert anders auf ein Medikament. Das Alter, die Dauer der Einnahme, die körperliche Verfassung und die Kombination verschiedener Medikamente beeinflussen sich gegenseitig in komplexer Weise. Wechselwirkungen mit Alkohol sind sehr unterschiedlich, schwer absehbar und möglicherweise gravierend. Wer Medikamente nimmt und keinen Alkohol trinkt, ist auf der sicheren Seite.
Rezeptfrei heisst nicht harmlos
Chronische Krankheiten oder akute Beschwerden wie Kopfschmerzen, Erkältungen oder Allergien bedeuten an sich schon eine ungewohnte Beeinträchtigung der Fahrleistungen. Manchmal ist sicheres und konzentriertes Fahren jedoch erst mit einem Medikament möglich (Diabetiker, Herzpatienten, Allergiker, Epileptiker). Es kann aber auch Reflexe verhindern oder die Konzentration einschränken. Wer ein Medikament einnimmt, muss vor der Fahrt immer in eigener Verantwortung entscheiden, ob das Fahrzeug sicher gelenkt werden kann. Gewisse Medikamentengruppen stehen im Vordergrund. Dies sind insbesondere solche mit Wirkung auf das zentrale Nervensystem und Gehirn: Schlaf- und Beruhigungsmittel, Psychopharmaka (Antidepressiva, Neuroleptika, Antiepileptika, starke Schmerz- und Migränemittel sowie Medikamente mit Wirkung auf das Herz-Kreislauf-System (siehe Kasten unten).
Doch auch frei verkäufliche Medikamente (Erkältungsmittel, Hustenmedikamente, Antiallergika, rezeptfreie Schlafmittel) können einschränkend auf die Fahrfähigkeit wirken. Unbedenklich sind in der Regel Salben, Halsschmerztabletten, Nasensprays oder Augentropfen bei leichten Beschwerden.
Besonders vorsichtig gilt es bei Neuverordnungen, Umstellungen, Dosisanpassungen und neuen Kombinationen zu sein. Die Reaktion auf die Medikamente ist dann noch nicht bekannt, und meist sind Nebenwirkungen zu Beginn einer Therapie ausgeprägter. Für eine sichere Fahrt lohnt es sich, eine medizinische Fachperson zu fragen. Sie verfügen über das nötige Wissen, und es gehört zur ihrer Grundpflicht, die Patienten bei Abgabe von Medikamenten auf mögliche Risiken hinzuweisen. Im Zweifelsfall gilt: Besser nicht fahren, Eigenverantwortung wahrnehmen und kein unnötiges Risiko eingehen.
BEAT INNIGER, OFFIZIN-APOTHEKER FPH, ADELBODEN
Weitere Informationen zum Thema finden Sie in unserer Web-Link-Übersicht unter www.frutiglaender.ch/web-links.html
Tipps
• Arzt oder Apotheker auf den Einfluss auf die Fahrtüchtigkeit ansprechen
• Packungsbeilage genau lesen: «Wann ist bei der Einnahme Vorsicht geboten?»
• Dosierung und empfohlene Einnahmezeiten genau einhalten
• Bei erstmaliger Einnahme besonders aufmerksam sein (individuelle Reaktion), bei Unwohlsein Fahrt unterbrechen
• Warnzeichen beachten (Müdigkeit, Schwindel, Sehstörungen, Übelkeit)
• Mögliche Wechselwirkungen abklären, vor allem bei gleichzeitiger Einnahme mehrerer Medikamente • Nur bekannte Medikamente für banale Erkrankungen (Kopfschmerzen, Erkältung, Allergien) verwenden
• Grosse Vorsicht bei Annahme von Medikamenten von Drittpersonen. Unbekannte Wirkungen möglich.
• Besondere Vorsicht gilt nach Operationen / Narkosen, Augenuntersuchungen (Pupillen weitgestellt durch Tropfen), bei emotionalen Belastungen, Übermüdung (Nachtarbeit, Prüfungen), nach langen Flügen, bei starken Schmerzmitteln (Opioide) sowie bei neu verordneten Schlafmitteln.
QUELLE TCS / ADAC
Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit durch verschiedene Arzneimittelgruppen
Die Wirkungen oder Nebenwirkungen von Medikamenten können die Fahrleistung (Müdigkeit, Schwindel, verminderte Reaktion, Sehstörungen), koordinative Funktionen und die Informationsverarbeitung beeinflussen. Es gibt dabei folgende Grade:
Keine bis leichte Gefährung
• Betablocker (Blutdruck, Herz, teilweise in Augentropfen gegen grünen Star)
• Muskelrelaxanzien (Muskelverspannungen, «Hexenschuss»)
Leichte bis deutliche Gefährdung
• Analgetika (Schmerz- / Entzündungsmittel; Paracetamol und Acetylsalicylsäure allein sind unproblematisch, erhöhte Gefahr aber in Kombination mit Codein oder Alkohol)
• Antikonvulsiva (Epilepsie)
• Analgetika (starke Schmerzmittel, Opioide)
• Antidepressiva
• Stimulanzien
• Antihistaminika (Antiallergika, v.a. ältere der 1. Generation, kombinierte Erkältungsmittel, rezeptfreie Schlafmittel)
• Antipsychotika (Psychopharmaka, Neuroleptika)
• Herz-Kreislauf-Mittel (Blutdruck, Herzrhythmus)
Deutliche bis ernsthafte Gefährdung
• Benzodiazepine (Beruhigung, Schlaf)
• Anticholinergika (Augen)
Generelles Fahrverbot
• 24 bis 48 Stunden nach einer Narkose
• Nach Augenuntersuchungen, wo die Pupille weitgestellt wird
• Neuverordnung oder Umstellung starker Schmerzmittel (Opioide)
QUELLE: PHARMASUISSE, PHARMACTUTEL HEFT 04/18