Gegensätze rund um Mitternacht
28.12.2018 KulturESSAY «Drei… zwei… eins… Frohes neues Jahr!» Es ist zwar nur ein Zeitpunkt, willkürlich auf die Sekunde festgelegt, aber mit grosser Bedeutung. Silvester – eine Zeit voller Widersprüche, hinter denen mehr als der Datumswechsel steckt.
HANS RUDOLF SCHNEIDER
ESSAY «Drei… zwei… eins… Frohes neues Jahr!» Es ist zwar nur ein Zeitpunkt, willkürlich auf die Sekunde festgelegt, aber mit grosser Bedeutung. Silvester – eine Zeit voller Widersprüche, hinter denen mehr als der Datumswechsel steckt.
HANS RUDOLF SCHNEIDER
Etliche Leute wollen an Silvester nur feiern und fröhlich sein. Sie geniessen die ausgelassene Stimmung, das Fest, das Essen und Trinken. Doch ist eine Party nur um der Party willen bloss Unterhaltung, noch lange keine Feier. Dafür braucht es einen Grund. Das Wort «feiern» wird deshalb meist ergänzt durch eine klärende Beschreibung – zum Beispiel mit «Weihnacht», «Geburtstag» oder eben «Silvester». Nur so macht es Sinn. Feiern für sich allein ist witzlos, also ergänzt oder erweitert man das Wort nicht nur mit einer Beschreibung, sondern normalerweise den entsprechenden Anlass auch mit Menschen. Das können Familienmitglieder, Freunde oder Unbekannte sein.
Aber es geht auch ohne Trubel: An Silvester kann man problemlos alleine sein, wenn man seine Ruhe haben will. Dann feiert man zwar nicht, sondern denkt eventuell nach – was vielleicht einen direkten Zusammenhang mit dem zunehmenden Alter hat. Denken wir mal kurz darüber nach, was sich denn am 31. Dezember um Mitternacht ändert. Ist es wirklich nur das Datum, die Jahrzahl? Steckt nicht mehr dahinter, dass der Jahreswechsel eine solche Bedeutung für viele Menschen hat?
Für die wenigsten wird es eine Rolle spielen, dass Silvester der Todestag des Papstes Silvester I. ist. 1582 wurde der letzte Tag des Jahres vom heutigen Heiligabend auf den 31. Dezember verlegt und fortan als Silvester bezeichnet. Damals war Silvester I. aber schon 1247 Jahre tot. Also nicht unbedingt ein Grund zum Feiern. Der letzte Tag im Jahr wurde mehr ein weltliches als ein kirchliches Fest. Rom passte es lange Zeit nicht, dass zum Jahresende getanzt, gegessen und getrunken wurde wie an keinem anderen Tag im restlichen Jahr.
Schon eher nachvollziehbar ist für uns der heidnische Brauch, mit dem in den Tagen vor und nach diesem Datum die bösen Geister vertrieben werden. Diese «Geister» können sich durchaus auf vergangene Ereignisse beziehen. Das Vertreiben der Angst vor Dunkelheit und Geistern passierte bei den Germanen vorzugsweise mit Feuer oder viel Lärm – was die heutigen Feuerwerke und die Trychler und auch das Treiben der schauerlichen Gestalten in vielen Oberländer Dörfern erklärt. Damit zurück zu den Gegensätzen dieses Datums. Die Festtage eignen sich hervorragend, um zu schlemmen, im Überfluss zu geniessen. Vielleicht überlegt man sich bei all den Köstlichkeiten ja auch gleich die guten Vorsätze für das nächste Jahr – zum Beispiel passend dazu künftig mehr Sport zu treiben? Oder man arbeitet zu viel und will dies im neuen Jahr unbedingt in den Griff kriegen? Doch während man die freien Festtage geniesst, droht unbewusst die wartende Arbeit, der volle Schreibtisch oder die Agenda 2019? Und wie oft schon sind diese Vorsätze am 1. Januar nach dem (Kater-)Frühstück bereits wieder vergessen und verdrängt? Es ist nicht einfach, diese widersprüchlichen Anliegen unter einen Hut zu bringen, oder?
Ein – wenn nicht gar der wichtigste – Aspekt des Jahreswechsels ist aber, dass man das Vergangene hinter sich lassen kann und nach vorne schaut. Dieser Punkt, diese Linie um Mitternacht, ist für den Kopf respektive den Geist wichtig, egal ob man Anhänger heidnischer Bräuche ist oder nicht. Unangenehmes vergessen und Neues erwarten. Doch das kann erneut ein Gegensatz sein, denn was passiert ist, können wir nicht einfach vergessen. Waren die letzten zwölf Monate wirklich so schlimm? Die Familie? Die Arbeit? Die Gesundheit? Haben wir Fehler gemacht? Wollen oder müssen wir jetzt etwas ändern? Die Erwartungshaltung ist jeweils gross, dass im neuen Jahr alles besser wird – oder wird es nur anders? Der Bruch, diese rote Linie, um Mitternacht des 31. Dezembers verspricht Hoffnung. Horoskopverfasser haben Hochkonjunktur. Sie bringen aber ebenfalls Unsicherheit. Wie wird das Jahr 2019? Scharen wir deshalb Menschen um uns, um diesen Zeitpunkt gemeinsam zu überwinden? Ob wir wollen oder nicht, es spitzt sich alles auf einen Augenblick zu, die einen nehmen es locker, die anderen ernsthafter. Doch wenn um Mitternacht die Glocken und die Gläser klingen, ist die Erleichterung jeweils gross. Geschafft!
Deshalb: «Drei… zwei… eins… Lasst uns Silvester feiern! Frohes neues Jahr!»