KOLUMNE – UNTERLÄNDER IM OBERLAND
28.12.2018 KolumneAnnekäthi und das alte Jahr …
Klar – die Festtage waren für Adelboden reserviert.
Eigentlich war es eine grässliche Hetzerei. Das Geschäft in Basel brummte. Jeder wollte noch etwas einkaufen. Und so kamen wir erst gegen sechs Uhr abends weg.
Total erledigt ...
Annekäthi und das alte Jahr …
Klar – die Festtage waren für Adelboden reserviert.
Eigentlich war es eine grässliche Hetzerei. Das Geschäft in Basel brummte. Jeder wollte noch etwas einkaufen. Und so kamen wir erst gegen sechs Uhr abends weg.
Total erledigt kamen wir nach fünf Stunden Autofahrt im Chalet an. Ums «O du fröhliche …» war niemandem mehr.
DAS HAUS WAR EISIG KALT. DENN NATÜRLICH WAR DER OFEN AUSGEGANGEN. UND ES STANK NACH DEM AUSGELAUFENEN HEIZÖL. Der Christbaum, den uns Edi in der Stube montiert hatte, war zwar durch die Kälte wunderbar frisch. Aber krumm. Kaum heizten wir ein – schneiten die Nadeln zu Boden.
DENNOCH – WIR WAREN ALLE GLÜCKLICH. DENN WEIHNACHTEN IN ADELBODEN BE-DEUTETE FÜR UNS: FAMILIE UND GEBORGENHEIT.
Während das Christkindlein also still gefeiert wurde, ging an Silvester die Post ab. Das Stübli wurde mit Girlanden geschmückt. Vater hatte Gumminasen und Spitzhütlein im Gepäck. Und die Omama strich auf Teufel komm raus «belegte Brote» – denn alle Nachbarn und Freunde waren auf den Abend angesagt.
Für einmal musste ich nicht auf die Ski. Mein Vater nahm mich auf einen langen Schneespaziergang mit.
UND DIESE SILVESTER-SCHNEESPAZIER-GÄNGE SIND MIR HEUTE NOCH DIE LIEBSTEN ERINNERUNGEN AN IHN.
Wir besuchten stets das Annekäthi. Denn das Annekäthi konnte die Zukunft voraussagen.
Das alte Weiblein mit dem Buckel wie ein kleiner Kiosk und den winzigen, schmalen Äuglein, die stets feurig blitzten, wohnte in einer ziemlich lottrigen Hütte bei der Elsigenalp.
Der Weg war mühsam. Aber mein Vater – er war im Trämlerchor – sang für mich das ganze Repertoire seiner Operettenschnulzen durch. Aus seinem Mund dampften kleine, weisse Wölklein. Und der Dreikäsehoch neben ihm war happy, dass er für einmal ganz alleine für ihn sang. Ansonsten waren junge Damen («oh schöne Frau, woher kennen wir uns?»), die Bierrunden in den Beizen oder die Trauergesellschaft an einem Leichenmahl sein Publikum – HIER SANG MEIN VATER NUR FÜR SEINEN SOHN! Wenn ich mit meinem etwas übersteigerten Bubensopran einfiel, wirbelte er mein Haar durcheinander. Und grinste: «Irgendwann lernst du es auch noch …»
Ich wusste nicht was.
Aber ich war glücklich.
In der kleinen, finsteren Stube roch es dann nach saurer Milch und tausend Katzen. Vater packte den Rucksack mit all den Backsachen, Würsten und zwei Dosen Nescafé aus, die Mutter für das Annekäthi bereitgestellt hatte: «Das Lotti lässt grüssen … es will wissen, was das neue Jahr uns so bringt …»
Die Alte aber blitzte wie ein Feuerwerk aus ihren Äuglein. Und hielt mir ihren Buckel hin: «Klopf drauf, Büebli – das bringt dir Glück für die nächsten zwölf Monate!» Auch Vater tätschelte ihren krummen Rücken. Und das Annekäthi seufzte: «Die Zukunft bringt, was sie bringt … für dich wirds wieder ein Stall voller Weiber sein, Hans! Und für das Lotti eine volle Kasse nach dem Weihnachtsgeschäft …»
Mich aber schaute sie traurig an: «Du bist zwar ein rosiger Bub, Kleiner – aber das Leben wird es nicht so rosig mit dir meinen…» Dann steckte sie mir jedes Mal einen winzigen Bergkristall hin: «Da – der wird dich vor allzu bösen Zungen und den bitteren Kommentaren dieser Welt beschützen!»
Um die etwas seltsame Stimmung zu lockern, klatschte Vater in die Hände: «Und du – Annekäthi, was hält die Zukunft für dich bereit …?» Sie lächelte nun zum ersten Mal: «In der Silvesternacht kommt hier stets die silberne Kutsche auf goldenen Kufen durch den Schnee angefahren. Man hört die Glöckchen schon von Weitem. Ein weisshaariger Mann in schwarzem Frack und hohem Zylinder hält die Zügel der zwölf Pferde. Der Greis ist das alte Jahr. Er zieht auf den zwölften Glockenschlag seiner letzten Nacht davon, um zwölf neuen Monaten Platz zu machen.
Der Mann fragt mich jedes Mal, ob ich mitreisen wolle … EINES TAGES STEIGE ICH EIN. UND DANN GEHT DIE REISE ZU DEN STERNEN …»
Auf dem Heimweg löcherte ich meinen Vater: «Meinst du, dass die Kristalle mich wirklich beschützen … wann steigt das Annekäthi in die Kutsche . ..sind die Kufen aus echtem Gold …?»
Ich stand dann beim Zwölf-Uhr-Läuten an unserem Stubenfester. Und schaute in die Silvesternacht: Der Alte mit dem Schlitten musste doch irgendwo über den Bergen zu sehen sein …
Natürlich waren da nur Sterne. Und die hellen, verschneiten Hügel.
ICH STIERTE AUCH NOCH ALS ZWÖLFJÄH-RIGER BUB IN DIE SILVESTERNACHT.
Mittlerweilen hatte ich sechs Kristalle, die mich beschützen sollten.
UND DANN – ALS DIE KIRCHENGLOCKEN DAS NEUE JAHR WILLKOMMEN HIESSEN – DA HABE ICH DIE SILBERKUTSCHE ENT-DECKT: Der Greis mit dem hohen Zylinder führte die Pferde. Sie jagten hoch über dem Wildstrubel den Sternen zu.
Im Schlitten sass Annekäthi. Und winkte mir zu.
«ICH HABE DAS ANNEKÄTHI GESEHEN!», rief ich aufgeregt in die fröhliche Menge.
«Ja, ja», lachten die Leute. Beachteten den Buben nicht. Und stiessen auf das Neujahr an.
ZWEI TAGE SPÄTER ERHIELTEN WIR DIE NACHRICHT, DAS ANNEKÄTHI SEI TOT IN SEINER HÜTTE AUFGEFUNDEN WORDEN.
Geblieben sind mir die Kristalle, die heute noch funkeln wie damals ihre Augen.
Und die mich stets vor allzu Argem beschützt haben …
- MINU
MINU@MINUBASEL.CH