100-jährig, aber keineswegs verstaubt
15.03.2019 Kandergrund, Blausee, MitholzObschon die Armut heute weniger offensichtlich ist als zu seiner Gründungszeit, nimmt der gemeinnützige Frauenverein noch heute soziale Aufgaben wahr. Präsidentin Brigitte Lanz hat für den «Frutigländer» in den Archiven gewühlt und ist dabei auf Erstaunliches gestossen. ...
Obschon die Armut heute weniger offensichtlich ist als zu seiner Gründungszeit, nimmt der gemeinnützige Frauenverein noch heute soziale Aufgaben wahr. Präsidentin Brigitte Lanz hat für den «Frutigländer» in den Archiven gewühlt und ist dabei auf Erstaunliches gestossen.
KATHARINA WITTWER
In Zeiten der Not rücken die Menschen zusammen und helfen sich gegenseitig, selbst wenn sie wenig haben. Bereits vor und während dem ersten Weltkrieg versuchten Frauen, das Los der Armen ein wenig zu lindern. Sie sammelten Geld und kauften davon warme Kleider, Wäsche, Wolle oder Lebensmittel für minderbemittelte Familien. Auch wurden Kurse in Haushaltführung für Frauen und Töchter organisiert. So auch in Kandergrund.
An einem Sonntag aus der Taufe gehoben
In der Gründungsurkunde des Frauenvereins Kandergrund-Mitholz ist sinngemäss Folgendes zu lesen: Schon seit mehreren Jahren war die Gründung eines gemeinnützigen Frauenvereins ein Wunsch und Bedürfnis. Dies, nachdem schon zwei Näh- und Flickkurse abgehalten worden waren. Am Sonntag, dem 23. November 1919, versammelten sich 23 Frauen und Töchter im Unterweisungslokal zur Gründung eines solchen Vereins. Drei Ziele wurden definiert: 1. Veranstaltung von Vorträgen über häusliche und soziale Frauenpflichten. 2. Veranstaltungen von allerlei praktischen Kursen. 3. Gründung gemeinnütziger wohltätiger Einrichtungen. «Es bleibt also noch ein vollgerüttelt Mass von Arbeit übrig!»
Männer kontrollierten die Frauen
Zur Neugründung verfügte man bereits über ein Startkapital von 194 Franken in Form eines 1906 eröffneten Sparheftes, lautend auf den Armenarbeitsverein. Die Zinserträge von zwei an den Verein vermachten Legaten (letztwillige Verfügungen) von je 1000 Franken betrugen 1923 zusammen 59 Franken. Diese mussten zugunsten der Armen der Einwohnergemeinde verwendet werden. «Da diese Legate in jüngerer Zeit mehr Kosten als Gewinn generierten, lösten wir sie vor wenigen Jahren per Hauptversammlungsbeschluss auf», weiss Präsidentin Brigitte Lanz.
Trauten die Männer den Frauen eine ordentliche Buchführung nicht zu oder sah es das Gesetz so vor? Statt von eigenen Rechnungsrevisorinnen wurde das Kassabuch in den Anfängen vom Gemeindepräsidenten und dem Gemeindesekretär auf die Richtigkeit geprüft und vom Gemeinderat bewilligt.
Weihnachtspäckli für die Soldaten
Obwohl der Verein knapp bei Kasse war, wollte man während des Zweiten Weltkriegs den Aktivdienstlern zu Weihnachten ein Päckli schicken. Im November 1943 verfasste die Sekretärin ein Bittschreiben an die Gemeinde mit der Frage, «ob sie eventuell den finanziellen Teil zu übernehmen gewillt wäre. Es müssten unseres Erachtens pro Mann circa 3.50 Franken berechnet werden, um etwas Nettes zustande zu bringen. Dann möchten wir noch anregen, dem Bahnbewachungstrupp Fürtenfluh einen Imbiss zu offerieren.» Die vielen erhaltenen Dankesbriefe und -karten bezeugen, dass sich die 46 beschenkten Kandergrunder und Mitholzer über Lebkuchen, Nastücher, Rauchartikel, Äpfel und über «Diverses» gefreut haben. Inklusive Verpackungsmaterial und extra gedruckten Kärtchen wurden für diese Geste 185.60 Franken aus der Gemeindekasse berappt.
Nach den entbehrungsreichen Kriegsjahren wurde die Vereinsreise für viele Frauen zu einem speziellen Erlebnis. 1946 holte man brieflich in Gasthöfen im Schangnau, in Affoltern und Rüegsau Offerten für ein Mittagessen ein. Fürs komplette Menu waren 4 bis 4.50 Franken vorgesehen. Die «Sonnen»-Wirtin von Affoltern war zweifelsohne geschäftstüchtig, wie aus ihrem Antwortschreiben hervorgeht: «Da wir Frauen im Allgemeinen sehr wenig auf Reisen gehen, so dürfen wir uns schon etwas Gutes erlauben. Menu: Pastetli, 2 Stück, oder Suppe, Kalbsschnitzel garniert, Erbsli und Rüebli, Bratkartoffeln, Salat, und Glace zum Dessert zu Fr. 6.50. Einfachere Menus: Suppe, Kalbs- oder Schweinebraten, Teigwaren, Bohnen, Salat, und Kuchen zum Dessert zu Fr. 5 bis Fr. 5.50. Ich würde empfehlen, dieses zu Fr. 6.50 zu wählen …»
Eine weitere Anfrage ging ans Verkehrsbüro Montreux mit der Bitte um einige Adressen von Restaurants in der Umgebung: «Es sollte eher gutbürgerliche Küche, aber nichts Etikettenmässiges sein.» Im Mai führte die Reise mit einem 30-Plätzer-Car an den Genfersee. In der Schlussrechnung erscheinen verschiedentlich Telefonspesen zu je 20 Rappen für Absagen. Die telefonische Menübesprechung mit dem Hotel Suisse in Montreux kostete 30 Rappen.
Kursthemen damals und heute
Im Gegensatz zu anderen Frauenvereinen in der Region bieten die Kandergrunderinnen nach wie vor Kurse an. Waren es vor hundert Jahren Ernährungs-, Haushalt- und Gartenkurse sowie Vorträge über Hygiene oder Gesundheit, passten sich die Inhalte den jeweiligen Trends an. Die Themen der fürs Winterhalbjahr 1943/44 vorgesehenen Vorträge sind teilweise noch heute aktuell: Das Heim, ein Heiligtum / unsere heranwachsende Jugend / Autoritäre und Gehorsamsfragen in der Erziehung / Seelsorge in der Familie / Lange Kriegsdauer – grosse Aufgaben / Alltagsfreuden zur Bekämpfung der Alltagsschwierigkeiten / Vorlesen aus eigenen Geschichten mit passender Einführung.
Von den 1960er- bis in die 1980er-Jahre waren Koch-, Back-, Handarbeitsund Bastelkurse in. Plötzlich wurde das Brot auf vielen Familientischen in selbst geflochtenen Peddigrohr-Körbchen und die Züpfe auf einem formgleichen Brett mit geschnitzten oder mit Brandmalerei verzierten Motiven serviert. An zig Zimmerwänden hingen Makramee-Eulen als Wandschmuck, und gar manche Frau war stolz auf ihre selbstgeknüpfte Tasche. «Im Herbst bieten wir immer einen Blumendeko-Kurs an, beim Guetzlibacken sind wir jeweils zehn bis zwölf Frauen. Nicht zu vergessen die verschiedenen Gymnastik-Kurse, die unter dem Patronat des Frauenvereins ausgeschrieben werden», erklärt Lanz.
Nach wie vor gemeinnützig engagiert
Wie vernimmt der Frauenverein, wenn jemand einen finanziellen Zustupf gebrauchen könnte? «Das wird in der Tat immer schwieriger», seufzt die Präsidentin. Gemeindebehörden, Sozialdienste, Pfarrpersonen und die KESB unterliegen der Schweigepflicht. «Manchmal geben uns Verwandte oder Nachbarn einen Tipp.»
Kommt jemand in der Gemeinde durch eine Feuersbrunst oder ein Naturereignis zu Schaden, werden die Betroffenen unbürokratisch unterstützt. Als Mitglied verschiedener sozialer Einrichtungen im Frutigland bezahlt der Verein einen Jahresbeitrag. Zusätzlich werden je nach Möglichkeit einzelne Projekte mitfinanziert. Die Familienkooperation Berner Oberland erneuert dieses Jahr ihren Spielplatz – unter anderem mit Kandergrunder Geld. Die Kindergärtnerin erhielt nach dem Umbau der Räumlichkeiten eine Barspende für Spielsachen. Mütter von Neugeborenen bekommen ein Geschenk. In der Adventszeit besuchen Freiwillige Senioren und Alleinstehende und überbringen ihnen ein Präsent.
Ohne Geld geht auch heute nichts
Haupteinnahmequelle sind die Jahresbeiträge. Anfang Januar liegen in jedem Briefkasten das Jahresprogramm und ein Einzahlungsschein. Danach gehen erfreulicherweise auch mal grössere Beträge ein. Der Erlös vom Mitholzmärit wird einer wohltätigen Institution gespendet. Einmal war es die Stiftung «Freude herrscht!», einmal das Bad Heustrich und die Paraplegiker-Stiftung. Spenden aus Kirchenkollekten bei Abdankungen oder Hochzeiten sind stets willkommen.
Die Besitzerfamilie der ehemaligen Zündhölzlifabrik in Bifigen gründete nach der Fabrikschliessung die Walter und Marie Gehring-Schneider Stiftung. Dazu gehört auch eine landwirtschaftliche Parzelle. Der Pachtzins geht zwar an die Gemeinde, der Frauenverein erhält davon jedoch jährlich einen Betrag. «Bedürftige gibt es nach wie vor, auch wenn sich die Armut heute anders offenbart als vor hundert Jahren», weiss die Präsidentin aus Erfahrung.