PORTRÄT Er besitzt keine juristische Ausbildung, kommt aber dann zum Zug, wenn die Delikte besonders schwer wiegen. Der Frutiger André Schmid ist Laienrichter und erklärt die Besonderheiten dieses Amtes.

JULIAN ZAHND
Lehrerinnen sind faul, Coiffeure geschwätzig, Journalisten sensationslüstern: Vorurteile treffen nicht nur Einzelpersonen, sondern ganze Branchen. Ein beliebtes Ziel ist auch die Justiz. Richter seien realitätsferne Paragrafenreiter, lautet ein gängiges Klischee. Genau um dieses Stigma aufzuweichen, hat man in der Rechtsprechung das Amt des Laienrichters erschaffen. 15 davon kommen am Regionalgericht Oberland zum Einsatz, zu ihnen gehört auch André Schmid.

Bestrafung steht nicht an erster Stelle
Drei- bis viermal jährlich rückt der Frutiger aus, immer dann, wenn die Anklagen happig sind. Ab einem geforderten Strafmass von zwei Jahren Gefängnis entscheidet nicht mehr der Einzelrichter, sondern ein Dreier- oder gar ein Fünfergremium. Dieses besteht aus einem vollamtlichen Gerichtspräsidenten und mehreren Laienrichtern. Ein unendlich spannender Bereich sei es, in dem er sich bewege, sagt Schmid, aber auch einer, der unter die Haut gehe. Damit spricht er bereits die wohl wichtigste Voraussetzung an, dieses Amt auszuüben: «Man muss sich eine solide Schale zulegen. Emotionen haben hier nicht viel Platz.» Gefühlskälte aber regiere im Gerichtssaal nicht. Gerade in erstinstanzlichen Gremien wie dem Regionalgericht Oberland sei Menschlichkeit das Mass aller Dinge. «Im Verhandlungssaal siehst du einen Mörder, du hörst ihn. Du nimmst ihn somit als Person wahr und diese sollte bei der Urteilsfindung auch im Zentrum stehen.» Die Täter zur Einsicht zu bewegen, statt sie bloss zu bestrafen: So versteht André Schmid die Aufgabe des Gerichts, die übrigens auch zu seinem Charakter passt. Er selbst bezeichnet sich als harmoniebedürftig. «Ich habe ein weiches Herz.»

Sein Grossmut endet dort, wo die Lügen beginnen – und diese seien meistens gut erkennbar. «Mit der Zeit habe ich gelernt zu unterscheiden, ob jemand eine Tat wirklich bereut oder bloss Schutzbehauptungen aufstellt», so Schmid. Dieses Verhalten beeinflusse stets auch das Strafmass. Und wie genau entlarvt man Lügner? Schmid überlegt kurz, und sagt: «Man merkt es einfach.»

Urteile werden ausdiskutiert
Gesunder Menschenverstand ist der Sinn, auf den sich ein Laienrichter verlässt. Ansonsten aber scheinen die Hürden, einen solchen Posten zu bekleiden, erstaunlich tief. Einen guten Leumund ohne Vorstrafen sollte man mitbringen, so Schmid, zudem integer sein, verpflichte sich ein Richter doch der Verschwiegenheit.

Der berufliche Hintergrund hingegen ist sekundär. Eine juristische Ausbildung ist nicht Pflicht – womöglich nicht einmal erwünscht, macht die Mischung doch das Kollegialgericht aus. «Während die Gerichtspräsidenten und die Gerichtsschreiber die juristische Expertise mitbringen und den rechtlichen Rahmen abstecken, stützen wir uns primär auf unsere Erfahrung und unser Empfinden. Das soll zu einem ausgewogenen Urteil führen», so Schmid. Erstaunlich sei dabei, dass die verschiedenen Herangehensweisen kaum zu unterschiedlichen Entscheiden führen würden. «Nach der Einvernahme diskutieren wir die Argumente jeweils eingehend und schälen die zentralen Argumente heraus. In den allermeisten Fällen sind wir uns einig.» Und wenn nicht? Überlässt man die Entscheidung im Zweifelsfall dem Profi und nimmt sich selbst zurück? Schmid verneint. Zumindest am Regionalgericht Oberland, wo er tätig ist, seien die Juristen durchaus bereit, auf die Stimme der Laienrichter zu hören.

Weniger Einsätze, genauere Vorbereitung
Zusammen mit der Menschlichkeit bringt André Schmid eine gute Portion Erfahrung mit in den Gerichtssaal. 23 Laienrichter-Jahre und zwei Justizreformen liegen bereits hinter ihm. Und einige Veränderungen: Im Vergleich zu früher kommen Laienrichter seltener zum Zug. Bei Scheidungsverfahren etwa habe einst ein fünfköpfiges Gremium entschieden. Heute würden solche Fälle ausschliesslich vom Einzelgericht behandelt, was Kosten spare, so Schmid.

Die Anforderungen an den Laienrichter sind gleichzeitig jedoch gestiegen. Das so genannte «Unmittelbarkeitsverfahren», bei dem der Laienrichter den Prozess ohne Vorwissen in Angriff nahm, ist einem teils umfassenden Aktenstudium gewichen. Ein oder mehrere Ordner können es gut und gerne sein, für deren Durchsicht rund zwei Monate Zeit zur Verfügung stehen. Im Unterschied zu früher kann sich ein Laienrichter somit bereits ein Bild des Angeklagten machen, bevor er den Gerichtssaal betritt. Besteht da nicht die Gefahr einer Vorverurteilung? Zwar seien mit der Zeit gewisse Tatmuster erkennbar, gesteht Schmid. Der Grundsatz, dass jedes Individuum ein Recht auf Anhörung habe, müsse aber stets hochgehalten werden.

«Die Taten werden immer perfider»
Kürzlich wurde André Schmid pensioniert. Davor war er Geschäftsmann, arbeitete 44 Jahre lang im Familienbetrieb der Schmid + Mägert AG, Landmaschinen, davon viele Jahre als Mitinhaber und in der Geschäftsleitung. Eine Welt fern ab von der Jurisprudenz also. Hat der regelmässige Umgang mit Straftätern seine Lebenseinstellung verändert? Erneut überlegt er kurz, bevor eine ebenso knappe wie klare Antwort ausfällt: Nein. Kriminelle Energie gehöre halt einfach zum Menschen. «Sie war immer schon da, wenn sie im Zuge der modernen Kommunikationstechnologie auch immer perfider wird.» Dennoch sei er erstaunt, dass Menschen immer wieder denken würden, ihre kriminellen Taten würden unentdeckt. «Irgendwann kommt doch alles heraus.»

Hinter dieser Aussage steckt keine religiöse Symbolik, sondern vielmehr ein solider Glaube an das Rechtssystem. Zumindest in dieser Hinsicht passt er also doch ganz gut hinein ins Bild des typischen Richters.

«Emotionen haben nicht viel Platz»

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