Dank einer Frutigländerin finden Ausgebeutete eine neue Bestimmung
14.05.2019 AdelbodenTabea Oppliger, Tochter eines Engstligtalers, begleitet in Israel Opfer von Menschenhandel. In ihrer Werkstatt stellt sie zusammen mit ihren Schutzbefohlenen Taschen aus alten Sportdrachen her. In den Nahen Osten brachte sie und ihren Mann Matthias eine Fügung.
YVONNE ...
Tabea Oppliger, Tochter eines Engstligtalers, begleitet in Israel Opfer von Menschenhandel. In ihrer Werkstatt stellt sie zusammen mit ihren Schutzbefohlenen Taschen aus alten Sportdrachen her. In den Nahen Osten brachte sie und ihren Mann Matthias eine Fügung.
YVONNE BALDININI
Eine Frau Mitte 40 schneidet ein buntes Rechteck aus dem Segeltuch. Danach führt sie es sorgfältig durch die Nähmaschine, um es mit einem anderen Stück zu verbinden. Im Raum nebenan tippt eine etwas jüngere Frau Zahlen in den Computer. Sie trägt die Haare kurz, ihre Schulterknochen stechen durch die Bluse hindurch. Beide sind sie Opfer von Menschenhandel.
Letztere ist eine 36-jährige Israelin. Bereits als Jugendliche landete sie in der Prostitution – der ihr angebotene Job in der Stadt entpuppte sich als Dienst in der Pornoindustrie. Der Leidensweg begann. Nach jahrelanger Ausbeutung wandte sich die mittlerweile Magersüchtige und Alkoholabhängige in ihrer Verzweiflung an eine Schutzorganisation. Diese wies sie Tabea Oppligers Hilfswerk zu, wo Mitarbeitende aus gebrauchten Kitesegeln (Kite = Lenkdrachen) Taschen schneidern. Die Frau griff nach dem dargebotenen Strohhalm. Tabea erinnert sich: «Während sie die Kites öffnete, wusch und aufschnitt, schloss sie die Türe. Sie mied jeden Augenkontakt und wirkte völlig verschüchtert. Nach einiger Zeit meinte sie: «So wie ich das alte Segeltuch zu einer frischen Form umgestalte, habe auch ich eine neue Bestimmung.» Später wechselte sie vom Nähplatz in die Buchhaltung.
Arbeiten auf Augenhöhe
In der kleinen Produktionsstätte in Tel Aviv werken rund 15 Menschen, die den Ausstieg aus der Prostitution geschafft haben. Tabea Oppliger packt selbst an, wäscht und schneidet die Kites. «Ich bin nicht etwas Besseres als meine Mitarbeitenden und begegne ihnen immer auf Augenhöhe», lässt die 41-Jährige wissen. Passt eine Naht nicht, bittet sie die Schneiderin, sie wieder zu öffnen und zu verbessern. «Damit bezeuge ich Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Denn das ist das Trauma der ausgebeuteten Menschen: nichts zu können.» Fragen zur Vergangenheit stellen sie und ihr Mann Matthias keine. Die ihnen Anvertrauten würden von selbst reden. Die Taschen vermarktet das Ehepaar vor allem via Internet. Sie werden in die ganze Welt bis nach Australien verschifft. Das Sozialwerk lebt von Spenden. «Für uns ist der grösste Lohn, wenn Opfer von Menschenhandel ihrem Leben eine neue Richtung verleihen können», betont Tabea. Oppligers erhalten die Anfragen für Arbeitsplätze von offiziellen Hilfsorganisationen für Missbrauchsopfer. Die ausgedienten Kites bringen Wassersportler aus Tel Aviv vorbei.
Sie besuchte drei Jahre Prostituierte
Tabea Oppliger ist in Papua Neuguinea aufgewachsen, wo ihr Vater für ein christliches Sozialwerk arbeitete. Als 16-Jährige zog sie in die Schweiz, lebte in Frutigen, später in Spiez, Genf und Zürich. Die gelernte Reisefachfrau gründete den Verein «glowbalact». Im Namen steckt das Verb «to glow», was «leuchten» bedeutet. «Ich wollte Menschen, die ausgebeutet werden, wieder zum Strahlen bringen», erläutert die Oberländerin. Drei Jahre lang besuchte sie Prostituierte und hörte sich deren Sorgen an. Als praktizierende Massagetherapeutin versuchte sie den Frauen auch mit Massagen Gutes zu tun. «Eine sagte zu mir: Endlich spüre ich meinen Körper wieder. Diese Menschen entkoppeln sich von ihrem Leib. Sonst würden sie den Missbrauch nicht aushalten», ist sich Tabea sicher. In ihr entbrannte der Wunsch, eine Einrichtung mit einer sinnvollen Tätigkeit für Opfer von Menschenhandel zu schaffen. Denn häufig zögerten die Frauen auszusteigen, in der Überzeugung, nie eine Anstellung zu finden. Doch die nicht-ausgebildete Sozialarbeiterin stiess auf unzählige Hürden. «In mir steckt Pioniergeist. Zu viele Einschränkungen passen nicht zu meinem wilden Herzen», beschreibt die dreifache Mutter ihren Charakter.
Schicksalhafte Begegnung in Israel
So kam es, dass Freunde ihr eine Hilfsorganisation in Tel Aviv vorstellten. Tabea reiste mit ihrem Mann Matthias für fünf Tage dorthin, um herauszufinden, ob dies der richtige Ort sei, ihren Plan zu verwirklichen. An einem Abend stöckelte den Schweizern neben dem Hotel eine Frau entgegen. Der hinterherlaufende Mann schrie ihr etwas zu. Sie widersprach: «Ich will nicht.» Das Ehepaar hielt ihn an und forderte eine Unterredung mit der Frau. Während sich Matthias, der 13 Jahre lang als Kriminaldetektiv tätig gewesen war, um den Zuhälter kümmerte, fiel es Tabea wie Schuppen von den Augen. Sie erkannte die Prostituierte aus dem Zürcher Milieu. «Das war für mich ein Zeichen. Meine innere Stimme meldete sich: Wenn du schon hier wärst, hättest du ihr helfen können», erzählt die Frutigtalerin. Die Prostituierte war von der Schweiz nach Deutschland und von dort nach Israel geschleust worden – einem Land, das wegen der vielen Einwanderer als Drehscheibe für Menschenhandel gilt. Tabea hat die Frau später nie mehr gesehen. Diese Begegnung gab indes den Schweizern den Startschuss zum Auswandern.
Mehr Informationen zu den Projekten der Oppligers finden Sie in unserer Web-Link-Übersicht unter www.frutiglaender.ch/web-links.html