DAS OBERLAND BEREITET DIE NEUEN ASYLSTRUKTUREN VOR
28.05.2019 AnalyseINTERVIEW Der Verein Asyl Berner Oberland hat beim Kanton ein gewichtiges Mandat gefasst: Er kümmert sich künftig um alle aufgenommenen Geflüchteten und soll sie fit für den Arbeitsmarkt machen. Kann das gelingen?
JULIAN ZAHND
Das Asylwesen in der Schweiz befindet ...
INTERVIEW Der Verein Asyl Berner Oberland hat beim Kanton ein gewichtiges Mandat gefasst: Er kümmert sich künftig um alle aufgenommenen Geflüchteten und soll sie fit für den Arbeitsmarkt machen. Kann das gelingen?
JULIAN ZAHND
Das Asylwesen in der Schweiz befindet sich seit mehreren Jahren im Umbruch. Ziele der Neuerungen sind rasche Asylentscheide durch beschleunigte Verfahren und konsequente Integration von Personen mit Bleibeperspektive. Seit März 2019 kommen Geflüchtete zunächst in den neu geschaffenen Bundesasylzentren unter. Nach spätestens 4,5 Monaten sind die Asylentscheide in der Regel getroffen und die Personen werden an die Kantone verteilt, die ab diesem Zeitpunkt für ihre Betreuung und Integration verantwortlich sind. Gut 12 Prozent der Asylbewerber entfallen dabei auf den Kanton Bern.
Auch auf Kantonsebene sind strukturelle Vereinheitlichungen im Gange. Bislang kümmerten sich mehrere Organisationen parallel um die Geflüchteten, künftig soll es pro Region nur noch eine sein. Im April wurden die kantonalen Partner bekanntgegeben, die Region Oberland ging dabei an den Verein Asyl Berner Oberland, der sich gegen Mitbewerber wie Caritas, die Heilsarmee oder die ORS durchsetzte (der «Frutigländer» berichtete).
Mit dem neuen Mandat kommen auf den Verein und die Region nun neue Aufgaben zu. Ist man darauf vorbereitet? Im Gespräch stellt Vorstandsmitglied Markus Bieri nicht nur zusätzliche Stellenprozente in Aussicht, sondern auch die Prüfung neuer Standorte für Kollektivunterkünfte, da die Platzverhältnisse mittelfristig eng werden könnten.
«Frutigländer»: Herr Bieri, der Kanton Bern hat die Organisation Asyl Berner Oberland zum Partner für operative Aufgaben ernannt. Worum genau muss sich der Verein künftig kümmern?
Markus Bieri: Wir sind im Oberland für die Betreuung aller Geflüchteten zuständig. Das bedeutet zunächst Obdach und finanzielle Unterstützung. Da wir davon ausgehen, dass diese Menschen langfristig in der Schweiz bleiben, ist die Integration von Beginn weg eine zentrale Aufgabe. Dazu gehören Deutschkurse, das Vermitteln von kulturellem Verständnis und die Integration in den Arbeitsmarkt. Zudem sollen die Leute erste Arbeitseinsätze leisten. In der Region sind das etwa die Bekämpfung von Neophyten (gebietsfremde Pflanzen) oder das Anbringen von Hausnummern wie kürzlich in Frutigen. Das Ziel hinter alldem ist klar: Die Geflüchteten sollen nicht in der Sozialhilfe bleiben, sondern ein eigenständiges Leben führen können.
Das Ziel ist nicht neu, trotzdem sind diese Leute meistens von staatlichen Geldern abhängig. Warum soll sich das gerade jetzt ändern?
Der wichtigste Punkt sind die neuen Rahmenbedingungen. Die Umstrukturierungen im Asylwesen sind seit Jahren im Gange, der politische Wille zur Integration der Menschen ist nun stärker als früher. Um jene Antragsteller, die anerkannt werden oder trotz Abweisung nicht in ihre Heimat zurückgeschickt werden können (siehe Kasten), müssen wir uns kümmern und sie bei der Eingliederung in die Gesellschaft unterstützen.
Um wie viele Menschen geht es da konkret?
Der Verein Asyl Berner Oberland betreut derzeit 891 Menschen. Noch ist unklar, wie viele Personen noch hinzukommen, die bislang von Organisationen wie der Caritas oder dem Schweizerischen Roten Kreuz betreut wurden. Das Oberland hat bei der Aufnahme von Geflüchteten grundsätzlich einigen Nachholbedarf. In den letzten Jahren kamen hier verhältnismässig weniger Menschen unter als in urbanen Gebieten.
Die Zahl dürfte also auf über 1000 steigen.
Das ist anzunehmen. In den Ausschreibungsunterlagen wurde für das Oberland von einem Durchschnittsbestand von 1350 Personen ausgegangen. Einerseits kommen laufend neue Personen hinzu, gleichzeitig werden aber auch Leute integriert oder erhalten einen Negativbescheid und müssen das Land verlassen. Die Kollektivunterkünfte werden einerseits durch die grössere Personenzahl und andererseits durch die längere Verweildauer verstärkt in Anspruch genommen.
Weshalb bleiben die Menschen länger in den Kollektivunterkünften?
Früher war es so, dass Geflüchtete in der Regel zwischen sechs und neun Monaten in diesen Unterkünften blieben. Danach folgte die 2. Phase, in der die Leute an die Gemeinden verteilt wurden und in Wohnungen zogen. Dieser Schritt erfolgte unabhängig davon, ob jemand erwerbstätig war oder nicht. Im neuen System ist das anders: Aus der Kollektivunterkunft entlassen wird in der Regel nur noch, wer über grundlegende Deutschkenntnisse verfügt und sich zudem in einer Ausbildungs- oder Erwerbssituation befindet.
Den lokalen Arbeitgebern kommt damit eine zentrale Rolle zu.
Ja. Ohne Hilfe der Arbeitgeber stossen wir schnell an unsere Grenzen. Deshalb ist uns eine enge Vernetzung mit der örtlichen Wirtschaft auch so wichtig.
Wie steht es denn um den Integrationswillen der hiesigen Arbeitgeber?
Sobald die Geflüchteten ein Gesicht erhalten, ist die Bereitschaft grundsätzlich da, jemanden aufzunehmen. Die anonyme Masse an Asylbewerbern hingegen macht eher Angst. Bislang waren zahlreiche Freiwillige im Einsatz, um persönliche Kontakte zu Unternehmen herzustellen. Unsere Erfahrungen haben aber gezeigt, dass die Integration besser verankert werden muss. Deshalb werden sich künftig auch Professionelle um die Integration in den Arbeitsmarkt kümmern.
Manchmal liegt das Problem aber gar nicht im fehlenden Integrationswillen, sondern am Arbeitsgesetz. In Branchen mit festgesetzten Mindestlöhnen ist die Eintrittshürde für Asylbewerber manchmal einfach zu hoch, weil die noch nicht voll ausgebildeten Arbeitskräfte zu teuer sind.
Sie möchten die Mindestlöhne abschaffen?
Nein, ich bin gegen Dumpinglöhne und gegen Ausbeutung.
Ich kann mir aber temporäre, mit den Organisationen des Arbeitsmarktes klar definierte, unter Umständen subventionierte Ausnahmeregelungen vorstellen, damit die Geflüchteten erst einmal eine Stelle bekommen und sich bewähren können und so überhaupt eine Chance erhalten.
In welchen Branchen sehen Sie denn grundsätzlich Potenzial?
Zum Beispiel im Tourismus, in Handwerksbetrieben oder in der Pflege. Viele Geflüchtete sind zudem jung, lernen rasch und sind dadurch in der Lage, eine Lehre erfolgreich zu absolvieren. Betriebe, die heute Mühe haben, ihre Lehrstellen zu besetzen, sind mögliche zukünftige Arbeitgeber. Bei der Landwirtschaft hingegen bin ich mir nicht sicher, ob eine solche Tätigkeit langfristig möglich ist und die Existenz dauerhaft sichern könnte. Grundsätzlich unterstützt aber die demografische Entwicklung die Aufnahme weiterer Personen in den Arbeitsmarkt. Zu hoffen bleibt, dass sich auch die wirtschaftliche Situation weiterhin positiv entwickelt – in Zukunft noch verstärkt mit Unterstützung durch gut integrierte Geflüchtete.
Hand aufs Herz: Wie viele Geflüchtete lassen sich realistischerweise in den Arbeitsmarkt integrieren?
Man muss erst einmal differenzieren. Man kann nicht von allen Geflüchteten die Integrationsleistungen einfordern. Einige von ihnen sind durch Kriegserfahrungen traumatisiert und kaum arbeitsfähig. Solche Menschen, die es ja auch in der Schweiz gibt, in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren, wird sehr herausfordernd sein. Es wäre nun unfair, von ihnen eine vollständige Eingliederung in die Arbeitswelt zu fordern. Gegenwärtig ist es so, dass nach sieben Jahren noch neun von zehn Asylbewerbern von der Sozialhilfe abhängig sind. Jede Senkung der Quote ist für uns ein Erfolg.
Was passiert mit Geflüchteten, die nicht arbeitsfähig sind? Falls sie in den Kollektivunterkünften bleiben müssen, würden sich diese rasch füllen ...
Das ist tatsächlich sehr herausfordernd und lässt sich kaum antizipieren. Wir werden Erfahrungen machen müssen.
Gegenwärtig gibt es in der Region zwei Kollektivunterkünfte – eine in Hondrich und eine in Matten. Dieser Platz dürfte kaum ausreichen.
Die beiden Standorte sind heute nicht ausgelastet, hier haben wir noch Reserven. Es ist aber anzunehmen, dass wieder mehr Kollektivunterkünfte entstehen. Die ganze Entwicklung ist von der Anzahl Geflüchteter abhängig. Da haben wir in den letzten Jahren gesehen, wie unterschiedlich diese Bewegungen sind.
Wo könnten Durchgangszentren eröffnet werden?
Das ist gegenwärtig in Abklärung. Bei der Wahl des Standortes müssen viele Kriterien berücksichtigt werden. Da die Geflüchteten möglichst guten Anschluss an die Gesellschaft, sprich Arbeitsmöglichkeiten brauchen, ist eine Kollektivunterkunft etwa auf dem Jaunpass nicht wirklich geeignet.
Kommen wir zum Schluss noch auf den Verein Asyl Berner Oberland zu sprechen. Dieser hat sich in der kantonalen Ausmarchung gegen Grössen wie das Schweizerische Rote Kreuz oder Caritas durchgesetzt. Welcher Trumpf stach?
Bezüglich des Preises und des Angebots an Sprachkursen hoben wir uns kaum von der Konkurrenz ab. Wir konnten jedoch Erfahrungen bei der Arbeitsintegration vorweisen und punkteten vor allem wegen der lokalen Verankerung. Bei den Gemeinden liegt Potenzial, das wir nutzen müssen. Unser zentraler Standort liegt derzeit in Thun. Von dort aus alles zu erledigen, wäre aber schwer machbar. Die vom Verein angestellten Sozialarbeiter kommen denn auch in die Sozialdienste, um die Geflüchteten vor Ort zu betreuen.
Gegenwärtig zählt Asyl Berner Oberland knapp 50 Angestellte. Reicht das?
Kaum. Wir werden aufstocken müssen, allerdings wissen wir noch nicht, um wie viel. Eine ursprüngliche Schätzung geht von einer Verdoppelung der Stellenprozente aus.
Was steht nun als Nächstes an?
Wir haben beim Kanton ein Konzept mit einer klaren Vorstellung eingereicht, wie wir die Betreuung der Geflüchteten umsetzen wollen. Nun wird es darum gehen, das zu konkretisieren. Der Verein hat ja in den letzten beiden Jahren bereits einiges umgesetzt. Asyl Berner Oberland selbst kümmert sich um die Betreuung der Asylsuchenden. Für die Sprachkurse hingegen suchen wir nun externe Partner. Weiter sind wir daran, die genaue Anzahl der zu betreuenden Personen herauszufinden. Daraus ergibt sich dann der Bedarf an Kollektivunterkünften und zusätzlichen Stellenprozenten.
Asylgesuche in der Schweiz
Im Jahr 2018 haben gut 15 000 Personen einen Asylantrag gestellt. Die Zahlen waren zum dritten Mal in Folge rückläufig, im Spitzenjahr 2015 gingen noch knapp 40 000 Gesuche ein. Die Gründe für den Rückgang liegen unter anderem in verstärkten Kontrollen im Mittelmeerraum und diversen internationalen Abkommen.
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) behandelte 2018 rund 26 000 Gesuche erstinstanzlich. Ein Viertel der Bewerber erhielt gemäss SEM den Status anerkannter Flüchtling (Ausweis B). Über die Hälfte der Gesuche wurde abgelehnt, bei einer Mehrheit davon resultierte aber der Status vorläufig Aufgenommene (Ausweis F), da diesen Menschen bei einer Rückführung Gefahr an Leib und Leben drohen würde. Auf knapp 20 Prozent der Anträge ging das SEM schliesslich gar nicht ein (NEE), etwa, weil die Schweiz gestützt auf das Dublin-Abkommen nicht dafür zuständig ist.
JUZ
ZUR PERSON
Markus Bieri sitzt im Vorstand des Vereins Asyl Berner Oberland. Zugleich ist der Frutiger Leiter des dortigen regionalen Sozialdienstes, der zur Trägerschaft der Organisation gehört. Vor anderthalb Jahren übernahm der Verein die Aufgaben der Asylkoordination in Thun, die zusammen mit Organisationen wie dem Schweizerischen Roten Kreuz oder Caritas für die Geflüchteten zuständig war. Neu ist der Verein Asyl Berner Oberland kantonaler Partner, ab Juli 2020 ist er im Oberland somit allein für die Geflüchteten (Ausweis B + Ausweis F) zuständig, während sich die übrigen Organisationen zurückziehen.
JUZ