Klassenzimmer unter freiem Himmel
12.07.2019 Frutigen, Bildung|SchuleDie Klasse ist voll, doch die Finanzierung der Erlebnis.Schule steht nach wie vor auf wackligen Beinen. Für Gründerin Anna Katharina Baumgartner ist denn auch klar: Entweder wächst die Privatschule, was neue Räumlichkeiten erfordert, oder sie wird in die herkömmliche Volksschule ...
Die Klasse ist voll, doch die Finanzierung der Erlebnis.Schule steht nach wie vor auf wackligen Beinen. Für Gründerin Anna Katharina Baumgartner ist denn auch klar: Entweder wächst die Privatschule, was neue Räumlichkeiten erfordert, oder sie wird in die herkömmliche Volksschule integriert. Sowohl der Kanton wie auch Gemeindevertreter scheinen dieser Idee zumindest nicht abgeneigt. Doch reicht diese Haltung der Behörden aus, um das Überleben der Schule zu sichern?
Als die Erlebnis.Schule vor zwei Jahren eröffnet wurde, war die Skepsis im Tal gross. Inzwischen ist die Alternative zur herkömmlichen Volksschule bekannt, die Plätze alle belegt. Und eigentlich will die Institution gar keine Alternative zur Volksschule sein, sondern ein Teil davon. Wie kann das gelingen?
RACHEL HONEGGER
«Gugg, das isch mi Frosch.» Ein Schüler öffnet den Becher, in dem früher ein Kaffeegetränk war, und nimmt ein Froschskelett heraus. Es stinkt fürchterlich, verweste Froschhaut hängt noch an den Mini-Knöchelchen. Die Kinder schreckt das nicht ab, sie scharen sich um den spektakulären Fund. «Das hie isch dr Chifer», tönt es aus einem Kindermund. Lernbegleiterin Martina Klossner schaltet sich ein und meint: «Das könnte wohl eher das Jochbein sein.»
Die Szene spielt sich am Seebergsee ab – erlebter Biologieunterricht. Hier am See macht die Klasse der Frutiger Erlebnis.Schule Pause auf dem Rückweg von der Alp Stierenberg im Diemtigtal, wo sie unter freiem Himmel übernachtet hat. Davor haben die Kinder einen Tag lang die Alp von Steinen gesäubert, haben «Chempe» geschleppt und schliesslich daraus eine Feuerstelle gemauert. «Etwas, das bleibt, nicht nur in den Herzen der Kinder, sondern auch für die Gäste der Alp Stierenberg», freut sich Anna Katharina Baumgartner, Gründerin der Erlebnis.Schule.
Anfang des Schuljahres hatten die Schüler den Wunsch geäussert, einmal in der Natur zu übernachten. Darauf haben sie sich nun ein Jahr lang vorbereitet, hatten Naturnachmittage, bei denen sie mit einem Outdoorguide das Überleben in der «Wildnis» lernten.
Nahrhafter Boden fürs Lernen
Die aktive Teilhabe am Unterricht gehöre zum Konzept der Erlebnis.Schule, erklärt Anna Katharina Baumgartner. Jedes Kind dürfe zum Beispiel ein Jahresthema vorschlagen. Dann gilt es, dieses vorzustellen und die Gspänli davon zu überzeugen. Demokratisch stimmen die Schüler ab. Im vergangenen Schuljahr war die Chinesische Mauer das Hauptthema. Chinesisches Essen, die Schrift, Tanz, Kampftechnik – rund um das Thema gab es so einiges zu lernen und zu entdecken. «Wir holen immer wieder Profis und Fachleute hinzu», schildert Anna Katharina Baumgartner.
Der reguläre Schulstoff komme dabei nicht zu kurz, betonen die beiden Lehrerinnen, schliesslich seien sie als bewilligte Privatschule dem Lehrplan verpflichtet. Aber im Rechnen werden halt Zahlenreihen mit Hüpfspielen gelernt, oder sie werden gesungen oder «getschuttet». Gelesen wird nicht in einem Klassenzimmer, sondern an Lieblingsorten, zum Beispiel auf dem Baum im Garten. Und das Kind wählt den Lesestoff selber aus.
Wichtig bei allem sei die Atmosphäre. Sie seien mehr als eine Schule. «Wir sind eine Lebensgemeinschaft geworden», sagt Martina Klossner. Und Anna Katharina Baumgartner doppelt nach: Geborgenheit und Beziehung seien der nahrhafte Boden fürs Lernen. «Erst wenn das da ist, wird Lernen wirklich möglich», sind beide überzeugt.
Auch der Kanton hat ein offenes Ohr
Erlebtes Lernen, ohne Druck, ohne Noten, jedes Kind im eigenen Tempo und mit eigenen Interessen. Für Fachpersonen wie Neurobiologe Gerald Hüther oder Pädiater Remo Largo – sie haben sich auf den Gebieten Hirnforschung oder kindliche Entwicklung international einen Namen gemacht – ist längst klar: Nur das ist nachhaltig. Den Schulstoff wie bisher vermitteln, das nennt man in ihren Kreisen «Bulimie-Lernen»: Stoff auswendig pauken, bei der Prüfung wieder rausspucken und dann vergessen.
Auch die Schweizer Volksschule will diese neuen pädagogischen Erkenntnisse immer mehr integrieren. «Der Kanton Bern», sagt Schulinspektor Martin Pfanner, «befürwortet und unterstützt innovative Schulen, Klassenund Unterrichtsformen. Gerade mit der Einführung des Lehrplan 21 hat die Unterrichtsentwicklung neuen Schub erhalten.»
Noch ist es ein weiter Weg
Und trotzdem ist die Zukunft der Erlebnis.Schule ungewiss. Denn noch arbeiten beispielsweise praktisch alle Personen ehrenamtlich und ohne Gehalt. Anna Katharina Baumgartner sieht zwei mögliche Wege, damit ihre Schule auf Dauer sinnvoll überleben kann. Der eine Weg wäre, dass sie eine Privatschule bleibt und wächst. Dafür bräuchte sie aber ein grösseres Schulhaus, welches sie seit Längerem vergeblich sucht.
Den zweiten Weg bevorzugt die Schulleiterin: nämlich Teil der Volksschule zu sein. Aber genau das scheint trotz Interesse seitens Kanton noch ein steiniger Weg. Ein erster Versuch vor zwei Jahren, als Pilotklasse in der Volksschule Reichenbach unterzukommen, scheiterte. Zu gross waren die Hürden, zu stark waren damals noch die Berührungsängste. Doch Anna Katharina Baumgartner will nicht aufgeben. «Unser Ziel war von Anfang an, Teil der Volksschule zu sein. Daran arbeiten wir weiterhin mit allen Kräften.»
Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, ist ein sogenannter Schulversuch. Die Erziehungsdirektion kann einen solchen gestatten oder veranlassen, das steht im Volksschulgesetz. Ein Versuch ist befristet und wird vom Kanton begleitet und evaluiert sowie gegebenenfalls finanziell unterstützt. Vieles, was die Erlebnis.Schule anbiete, wäre schon in der Regelschule möglich, betont Schulinspektor Martin Pfanner. Aber bei weiterreichenden Ideen, wie zum Beispiel Noten absetzen, da bräuchte es eben einen solchen Schulversuch.
Die Gemeinden sind gefragt
Weil die Organisation der Volksschule aber Aufgabe der Gemeinden ist, kann sich der Kanton erst einschalten, wenn sich eine Gemeinde bereit erklärt, eine Klasse im Sinne der Erlebnis.Schule als Schulversuch zu führen. Vom Standort her kämen da wohl am ehesten Frutigen oder Reichenbach infrage.
Findet sich eine solche Trägergemeinde, müsste diese die Zuweisung zu der Schulversuchsklasse regeln. Sollen Kinder aus verschiedenen Gemeinden teilnehmen dürfen, bräuchte es interkommunale Regelungen. Hansueli Mürner, Gemeinderatspräsident von Reichenbach, ist persönlich überzeugt, dass eine solche «Erlebnisklasse» für eine Gemeinde eine Chance wäre und den Eltern die Möglichkeit bieten würde, einen gewissen Druck auf die Volksschule auszuüben, damit sich diese ebenfalls ein bisschen bewegt. Ob ein Schulversuch, welcher Art auch immer, bei den Behörden auf Zustimmung stossen würde, sei schwierig zu beurteilen. Er bemerke in den letzten Jahren eine gewisse Öffnung gegenüber solchen Themen. Beispielsweise sei Reichenbach eine der früheren Gemeinden gewesen, welche die Kita-Betreuungsgutscheine eingeführt habe.
Auch der Gemeinderatspräsident von Frutigen, Hans Schmid, ist aus persönlicher Sicht von der Erlebnis.Schule überzeugt. Er lernte sie bereits kennen und sagt: «Es war sehr eindrücklich, sehr umfangreich und naturverbunden und hat mir persönlich sehr imponiert.» Aber auch er betont, dass hier nicht sein persönlicher Eindruck zähle. So etwas sei halt auch immer mit Kosten verbunden und eine Frage der Verhältnismässigkeit.
Strategie der kleinen Schritte
Das Konzept der Erlebnis.Schule stösst im Tal somit je länger, je weniger auf Skepsis. Die Warteliste für Schuleintritte ist mittlerweile lang, diesen Sommer hätte Anna Katharina Baumgartner eine zweite Klasse eröffnen können. Und dennoch: Ob sich eine Trägergemeinde finden lässt und ob ein Schulversuch zustande kommt, das steht in den Sternen.
Vielleicht in jenen Sternen, unter denen die Schüler der Erlebnis.Schule auf der Alp Stierenberg übernachteten. Und passend zu den Steinen, welche die Kinder den ganzen Tag geschleppt haben, zitiert Anna Katharina Baumgartner abschliessend Konfuzius: «Wenn du Berge versetzen willst, beginne damit, kleine Steine wegzutragen!»
Zur Erlebnis.Schule
Die Erlebnis.Schule in Frutigen hat 25 vom Kanton bewilligte Plätze. Diese Plätze sind alle belegt, mit Kindern vom Kindergarten bis zur 4. Klasse. Unterrichtet werden sie von sieben Lehrpersonen und zwei Heilpädagogen. Ausserdem helfen sieben weitere Personen im Lehrbetrieb mit.
Das Schulgeld pro Kind ist auf 1000 Franken pro Monat festgelegt, für Kindergartenkinder auf 700 Franken. Bei zwei und mehr Kindern gilt ein Höchstsatz von 1500 Franken pro Familie und Monat. Allerdings gibt es zurzeit kaum Vollzahler an der Erlebnis.Schule. Jede Familie bezahlt so viel Schulgeld, wie dies die finanzielle Situation erlaubt. Anna Katharina Baumgartner betont, es sei ihr wichtig, keine elitäre Schule zu sein, die sich nur wenige leisten können.
RH
Homeschooling im Trend
Alternativen zur Volksschule erfreuen sich immer grösserer Beliebtheit. Im Kanton Bern beispielsweise hat sich die Zahl der Kinder, welche im Homeschooling unterrichtet werden, von 2012 bis 2019 vervierfacht: Von 166 Kindern im Schuljahr 2012 / 13 auf 681 Kinder für das kommende Schuljahr 2019 / 20.
Die Anzahl der Privatschulen wie jene in Frutigen wuchs über die letzten 10 Jahre von 36 auf 60 Schulen an, allerdings bei einer nahezu gleichbleibenden Anzahl Schülerinnen und Schüler. Auf die Gesamtanzahl aller Schulkinder machen die Privatschülerinnen und -schüler lediglich einen Anteil von gut 3 Prozent aus.
RH