«Wenn ich von höheren Kosten spreche, meine ich Faktor 1000»
20.12.2019 GesundheitDer Schweiz fehlen Hunderte Medikamente – Tendenz steigend. Der Spitalapotheker Enea Martinelli baut deshalb ein Frühwarnsystem auf. Doch welche Reaktionsmöglichkeiten haben Ärzte und Spitäler überhaupt?
HANS RUDOLF SCHNEIDER
Regelmässig wird von Enea ...
Der Schweiz fehlen Hunderte Medikamente – Tendenz steigend. Der Spitalapotheker Enea Martinelli baut deshalb ein Frühwarnsystem auf. Doch welche Reaktionsmöglichkeiten haben Ärzte und Spitäler überhaupt?
HANS RUDOLF SCHNEIDER
Regelmässig wird von Enea Martinelli davor gewarnt, dass einige Medikamente in der Schweiz gar nicht oder nicht in den gewünschten Mengen vorhanden seien. Diese Engpässe listet der Apotheker der Spitalgruppe Frutigen-Meiringen-Interlaken (fmi) auf einer Website auf. Derzeit findet man dort über 700 Eintragungen.
Enea Martinelli, ihre Datenbank listet Engpässe auf. Dabei sitzen viele Pharmafirmen in der Schweiz. Wie kann es dazu kommen?
Wir haben eine grosse Pharmaindustrie. Diese produziert jedoch in erster Linie hochinnovative Medikamente im Bereich der Krebsbehandlung, also quasi am oberen Ende der Preisskala. Was fehlt, sind die Medikamente am unteren Ende. Dort findet die Wirkstoffherstellung zu über 90 Prozent nur noch in China statt, natürlich primär aus ökonomischen Gründen. Das betrifft aber über 80 Prozent der durchgeführten medikamentösen Behandlungen. Interessant ist, dass auch Schweizer Firmen, die sich vordergründig konkurrenzieren, den Wirkstoff für ihre Tabletten und Kapseln jeweils beim gleichen Hersteller kaufen.
Das allein kann ja keinen Notstand auslösen, das ist Marktwirtschaft. Wo also liegt das Problem?
Beispielhaft kann man das am Wirkstoff Valsartan – eingesetzt bei Bluthochdruck – darstellen: Das Originalmedikament Diovan® wurde von Novartis entwickelt. Dann sind die Generika gekommen und haben die Preise gedrückt, sodass neben dem Originalhersteller nur noch ein einziger Wirkstoffproduzent übrig blieb. Vor einem Jahr hatte dieser ein Problem mit der Reinheit. In der Folge waren rund drei Viertel des Weltmarkts betroffen, auch die Schweiz.
Wie wirkt sich das auf die Schweiz aus?
Wenn es überhaupt weitere Wirkstoffhersteller gibt, kann man die Produktionsmenge dennoch nicht so einfach erhöhen. Und dann stellt sich die Frage, wann wir bedient werden. Aktuell haben wir einen Preisvorteil gegenüber dem Ausland, die Medikamente hier sind oft vergleichsweise teuer. Fällt dieser Anreiz weg, dann gehören wir wegen der geringen Grösse des Markts zu den Letzten, die beliefert werden.
Die Spitäler und zunehmend auch Apotheker müssen Alternativen finden. Die erste Idee ist, Medikamente mit demselben Wirkstoff von einer anderen Firma zu bestellen, dann ein Direktimport aus dem Ausland. Jede der Möglichkeiten kann aber Auswirkungen auf den Patienten und die Kosten haben.
Welche Medikamente sind besonders kritisch für die Spitäler fmi AG?
Wir hatten schwierige Versorgungssituationen zu überstehen, die Patientinnen und Patienten haben das jedoch kaum mitbekommen. Der Aufwand im Hintergrund steigt aber immens. So hatten wir kürzlich einen Mangel an Vitamin K, das vor Notfalloperationen bei Patienten mit bestimmten Blutverdünnern eingesetzt wird. Wir konnten das dank interner Massnahmen ohne grössere Schwierigkeiten überstehen. Hätte es länger gedauert, so hätten wir auch das gemeistert, jedoch zu bedeutend höheren Kosten. Wir wären auf Blutfaktoren ausgewichen.
Mit welchen Folgen?
Wenn ich von höheren Kosten spreche, dann meine ich den Faktor 1000. Das funktioniert genauso gut, ist aber wegen der Kosten normalerweise nicht sinnvoll. Wir mussten bisher aber keine Therapien verschieben oder absagen, auch keine Operationen. Wir haben immer gemeinsam mit den Ärzten eine Lösung gefunden. Vom Notstand sind mittlerweile auch normale Apotheken betroffen, nicht nur die Spitäler.
Wie aufwändig ist die Suche nach Alternativen?
Enorm. Stellen Sie sich folgende Situation vor: In einem Pflegeheim wird ein Medikament bei rund einem Drittel der Bewohner eingesetzt. Jetzt fehlt dieses. Wenn es ein wirkstoffgleiches gibt, dann geht das noch. Wir müssen aber die Verordnungen anpassen. Fehlen jedoch alle Präparate mit diesem Wirkstoff, müssen die Therapien angepasst werden. Das ist im Einzelfall nicht ganz einfach – insbesondere bei chronischen Krankheiten und gut eingestellter Medikation.
Wo finden Sie alternative Medikamente?
Im Inland, in Zusammenarbeit mit anderen Spitälern oder dann im Ausland. Das wird allerdings immer schwieriger, weil alle europäischen Staaten das gleiche Problem haben. Oder wir finden kreative Lösungen so wie vor einem Jahr, als wir aus einer Ampulle eines Wehenmedikaments jeweils zwei Fertigspritzen hergestellt haben.
Hat das auch finanzielle Konsequenzen?
Die Krankenkassen bezahlen maximal den Schweizer Preis. Es kommt nicht selten vor, dass ein importiertes Produkt teurer ist als hier. Wir dürfen die Differenz nicht den Patienten belasten, das heisst, wir tragen als Spitalgruppe die Zusatzkosten. Dann ist es deutlich einfacher, auf eine teurere Therapie umzustellen. Wie neulich bei einem Leukämie-Medikament, das in der Schweiz 100 Franken pro Monat kostet, in Deutschland 256 Euro. Die Krankenkasse empfahl uns jedoch, das einfach erhältliche teure Alternativprodukt mit monatlichen Kosten von 1500 Franken einzusetzen. Sinnvoll ist das nicht.
Pro Jahr werden für Millionenbeträge Medikamente importiert. Die Möglichkeiten sind da begrenzt, selbst Abhilfe zu schaffen. Wenn die Wirkstoffe fehlen, sind auch die Produktions- und Handelsfirmen machtlos.
Wie reagiert man bei der Spitäler fmi AG darauf?
Wir haben von einigen kritischen Produkten die Lagerbestände angepasst. Das ist alles, was wir prophylaktisch tun können. Zudem haben wir mit www.drugshortage.ch quasi einen «Radar», der uns frühzeitig informiert. Genau das war das Anliegen. Wenn sich ein Engpass abzeichnet, dann müssen wir irgendeinen Entscheid treffen.
Kann ein Spitalapotheker nicht Medikamente herstellen?
Wir haben eine gute Einrichtung zum sogenannten «Compounding». Das heisst, wir machen aus bestehenden Produkten ein neues, das auf die entsprechenden Patienten massgeschneidert ist. In der Regel sind das sterile Fertigspritzen oder Infusionen für die Onkologie. Es gibt Spitäler, die haben grössere Produktionseinrichtungen, in denen sie die Arzneiformen herstellen können. Das macht bei uns wenig Sinn, da wir quasi neben dem Spital Interlaken mit der Laboratorium Dr. G. Bichsel AG einen bestens eingerichteten Arzneimittelhersteller haben. Wir haben eine sehr enge Zusammenarbeit.
Aber …?
Das nützt jedoch alles nichts, wenn der Wirkstoff fehlt. Und genau dort liegt das Problem. Es ist selten die eigentliche Verarbeitung betroffen, sondern eben die Wirkstoffproduktion selbst.
Die Herstellung der Grundstoffe wandert aus wirtschaftlichen Gründen nach Asien ab. China und Indien sind gross im Geschäft. Damit wird auch das Fachwissen ausgelagert.
In Mitholz war eine unterirdische Produktionsanlage der Armee in Betrieb. Heute hat die Armeeapotheke ihre Kapazitäten in Ittigen konzentriert. Wäre das eine Alternative?
Die Armeeapotheke kann wie wir Wirkstoffe verarbeiten. Sie stellt jedoch selbst keine her. Sie ist kein Chemiewerk, sondern ein Verarbeitungsbetrieb. Das Problem ist viel breiter, als dass die Armeeapotheke hier das Ei des Kolumbus wäre.
Erste Regierungen wie Italien und Grossbritannien haben Exportstopps für lebenswichtige Medikamente erlassen.
Das löst das Problem überhaupt nicht. Aber es verschafft diesen Ländern etwas Freiraum. Einige Engpässe können so überbrückt werden. Wenn ein Engpass besteht, gibt es einen Verteilkampf. Die Schweiz muss den Exportstopps etwas entgegenhalten können, sonst werden wir zum Exportland und das macht das Problem für uns noch schlimmer.
Die Möglichkeiten des Staats, in den Markt einzugreifen, sind beschränkt. Gewarnt wird vor allem davor, dass unvorsichtig die Medikamentenpreise gesenkt werden und so der Druck auf die Firmen steigt.
Wie kann die Situation verbessert werden ...?
Es hilft schon viel, wenn uns die Hersteller rechtzeitig mitteilen, wie lange ein Engpass in etwa dauern wird. In einer Verknappungssituation wird nach rein ökonomischen Gesichtspunkten verteilt. Wer genug zahlt, der kriegt. So einfach ist das.
Und was ist mit der Politik?
Die Politik will kaum ansprechen, dass es auch um die Preise geht. Stellen Sie sich zu Wahlzeiten einen Politiker vor, der hinsteht und sagt, die Medikamentenpreise in einigen Bereichen sind in Ordnung oder in anderen gar zu günstig. Da hört man nur die Botschaft, diese seien zu günstig – und der Politiker wird geteert und gefedert. Die erste Sorge sind die hohen Kosten. Die Sorge um die gute Versorgung kommt erst, wenn man selbst betroffen ist. Und bei diesem Thema geht es um die Versorgung.
Medikamente sollen also nicht günstiger werden?
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin ebenfalls der Meinung, dass einige Medikamentenpreise die Schmerzgrenzen deutlich überschreiten. Aber eben: Es braucht hier eine sehr differenzierte Diskussion, weil es letztendlich ein Tanz auf Eiern ist. Wenn wir den Wettbewerb «wüten» lassen, müssen wir die Grenzen definieren. Das heisst, wir müssen festlegen, was zur Grundversorgung gehört, sonst riskieren wir den Verlust einiger wichtiger Medikamente. Und letztendlich braucht es auch Anreize, damit die Wirkstoffproduktion wieder nach Europa kommt. Und auch da geht es um Geld. Leider …
Wird die Lage nicht ernst genommen?
Der Bund hat schon einiges gemacht, das muss man betonen. Wir können zum Beispiel viel einfacher als früher fehlende Präparate importieren. Das Schweizer System ist aber relativ komplex. Der Bund ist nur in ausserordentlichen Lagen, das heisst in Bedrohungssituationen, zuständig. Laut Verfassung sind die Kantone für die Versorgung in «normalen» Situationen verantwortlich. Für mich ist das an sich aber klar eine Aufgabe, die man dem Bund übergeben müsste.
Enea Martinelli (54) ist in Interlaken aufgewachsen, hat Pharmazie studiert und sich zum Spitalapotheker weitergebildet. Er sass von 2010 bis 14 für die BDP im Grossen Rat, bis 2018 war er Präsident der kantonalen BDP.
Apothekerverband fordert Exportverbot
Ein Exportverbot für wichtige Medikamente auch in der Schweiz? Der Apothekerverband pharma-Suisse forderte diese Woche, dass die gesetzliche Grundlage für einen Ausfuhrstopp geschaffen wird. Bisher ist dieser für das Bundesamt für Gesundheit nur eine unter mehreren Optionen, auf Engpässe zu reagieren. Natürlich sei dies das letzte Mittel, doch müsse man darauf vorbereitet sein, sagt der Apothekerverband.
Lieferanfragen aus dem Ausland gibt es regelmässig. Da der Verteilkampf für beschränkt erhältliche Medikamente über den Preis geführt werde, müsse diese Exportbremse vorhanden sein – da sonst die Schweiz am Ende das Nachsehen bei der Grundversorgung habe, wie Enea Martinelli im Interview sagt. Der Krankenkassenverband Santésuisse will hingegen keine Exportverbote, sondern Parallelimporte zulassen und den freien Markt über die Grenzen hinweg spielen lassen.
HSF