Anders als alle anderen
17.12.2019 KanderstegAgnes Seiler lebt nach dem Motto: «Go with the flow.» Sprich: Das Beste aus dem machen, was das Leben bietet. Sie ist ihrer Zeit oft voraus. Und hat im Ort so einiges bewegt.
RACHEL HONEGGER
Angefangen hat alles mit einer Entlausungsmaschine. Der Ostschweizer Vater ...
Agnes Seiler lebt nach dem Motto: «Go with the flow.» Sprich: Das Beste aus dem machen, was das Leben bietet. Sie ist ihrer Zeit oft voraus. Und hat im Ort so einiges bewegt.
RACHEL HONEGGER
Angefangen hat alles mit einer Entlausungsmaschine. Der Ostschweizer Vater von Agnes Seiler war während seines Aktivdienstes im Kandersteger Grand Hotel Belvédère zuständig für die Entlausung der Internierten. Eine seiner Aufgaben war die Reparatur der dortigen Entlausungsmaschine. Nach dem Zweiten Weltkrieg war für den Vater klar: Ich will zurück nach Kandersteg.
Ohnehin lässt sich Agnes Seilers Geschichte nicht erzählen ohne die ihres Vaters. Er hat sie geprägt wie kein anderer: Er war ein Pioniergeist. Aber auch einer, der oft zu viel auf einmal anriss – ausbaden musste das dann unter anderem Agnes Seiler. «Als Tochter habe ich manchmal gedacht: Jetzt gehts wieder mit ihm durch.»
Als er in Kandersteg die Gelegenheit bekam, einen alten Schweinestall und eine Scheune zu mieten, fing er an, sein eigenes kleines Imperium aufzubauen: Eine Tankstelle, eine Werkstatt, ein Transport-, Car- und Taxiunternehmen. Daraus erwuchs mit der Zeit das heutige Hotel Alfa Soleil. Nach ihren Eltern hat Agnes Seiler es geführt, zuerst als Angestellte, von 1982 bis 2013 zusammen mit ihrem Mann Peter Seiler als Inhaberin. Heute ist mit Sohn Nico und seiner Frau Romy die nächste Generation am Drücker.
Mit jedem Bätzi etwas Neues
«Fast jede Ecke hier im Haus hat eine Geschichte», erzählt Agnes Seiler bei einer Führung durchs Hotel. Denn ihr Vater hatte zwar kein Geld, aber immer Ideen. Von der BLS durfte er beispielsweise ausgediente Baracken übernehmen, um seine Cars darin unterzustellen. Im Jahr 1960 begann er, den Mitteltrakt des heutigen «Alfa Soleil» zu bauen, eine grosse Einstellhalle für seine Wagen. «Er war ein Selfmademan», erzählt Agnes Seiler. «Und dann hatte er die Idee vom Motel, sowas gab es damals noch nicht.»
Als das Motel zu klein wurde, baute er an. «Hier ist alles ineinander verschachtelt, organisch gewachsen. Wann immer ein Bätzi da war, hat er etwas Neues gemacht.» Ohne die Unterstützung der Mutter wäre das nicht gegangen, betont Agnes Seiler. «Wir haben sehr einfach gelebt. Auch die Kinder mussten mit anpacken. Andere sind in den Ferien weggefahren, wir mussten überall helfen, auch an der Tankstelle.»
Sich nicht anbinden lassen
Aus dem Motel wurde schliesslich ein Hotel. Die Familie mit vier Kindern musste mitziehen. «So war auch mein Leben stets mit dem Hotel verknüpft. Mein Traum war eigentlich, Innenarchitektin oder Dolmetscherin zu werden. Aber meine Eltern hatten kein Geld für diese Schulen, alles wurde dringend fürs Geschäft benötigt.»
Doch Agnes Seiler liess sich nicht sofort vom elterlichen Betrieb vereinnahmen. Nach der Sekundarschule ging sie ins Welschland, machte ein Französischdiplom und die Hauswirtschaftsschule, auf französisch notabene. «Die war sehr streng, aber ich habe sehr viel gelernt, auch für die Hotellerie später.»
Die Eltern hofften immer, Agnes komme zurück in den Betrieb. Nach dem Welschen habe sie dann auch einen Sommer lang im Hotel geholfen. Aber die junge Agnes wollte mehr. «Ich habe gesagt, ich will in die Welt hinaus, ich will mich nicht anbinden lassen.» In einem Fernkurs machte sie die Handelsschule, lernte an der Università per Stranieri di Perugia Italienisch und verbesserte in Cornwall ihr Englisch. Mit 20 Jahren besuchte sie die Hotelfachschule Luzern. Dazwischen war sie immer wieder in verschiedenen Hotels an der Rezeption. Nach dem Servicekurs und dem Küchenkurs an der Hotelfachschule wollte sie den Fachkurs anhängen. Doch da hiess es, es gäbe erst in zwei Jahren wieder einen freien Platz. «Die Eltern haben gedrängt, ich solle doch nach Hause kommen, wenn ich schon in der Hotellerie tätig sei.» Und so blieb ihr nicht viel anderes übrig. Sie machte den Wirtekurs und kam nach Hause.
1976 eröffnete sie das hoteleigene Restaurant, eine Woche später folgte die Eröffnung der ersten Disco in der Region, geführt von ihrer Schwester.
Ein Restaurant voller Baumstämme
Das Restaurant ist auch so eine Geschichte, die typisch ist für ihren Vater und dafür, wie sehr er seine Tochter in sein Engagement mit hineinzog. «Als er entschied, dass man dort, wo früher sein Fuhrpark war, ein Restaurant macht, lag eines Tages ein Wald von ‹Trämle› hier drin. Ganze Baumstämme mit Rinden, die er in der Sagi geholt hatte.» Er wollte damit die Decke konstruieren. «Ich sass auf diesen Stämmen mit dem Rindenmesser und sollte sie schälen.» Sie kam bis zur Hälfte – dann sah auch der Vater ein, dass man so nicht fertig wird bis zur Eröffnung.
«Aber das Beste kommt noch!», sagt Agnes Seiler und zeigt belustigt zur Decke im heutigen Restaurant. «Die Dielen, das sind alte Zimmertüren aus dem Hotel Spiezerhof. Mein Vater hatte kein Geld, aber er war immer unterwegs und wusste, wo was läuft. Ohnehin sind viele Sachen hier drin vom Spiezerhof.» Es sei ein richtiges Recycling-Hotel, lacht Agnes Seiler. «Diese Türen musste ich selbst ablaugen, der Geruch steckt mir bis heute in der Nase.»
Es war die Zeit, als sie ihren Mann Peter Seiler kennenlernte. Er arbeitete bei der Konkurrenz als Geschäftsführer und war gwundrig, was denn da entsteht. «Ich konnte ihn zuerst nicht riechen. Er ist immer mit der Krawatte rumgelaufen und als er mal wieder wissen wollte, wie weit wir sind, als ich gerade am Streichen war, dachte ich: Jetzt könnte ich die Farbe über ihn ausgiessen ...» Sie hat es sich dann verkniffen.
Später, als der Vater den jungen Mann im eigenen Hotel zum Direktor machte, da wurden Agnes und Peter zum unzertrennbaren Gespann und Ehepaar. 1981 kauften die beiden dem Vater das Hotel ab. Dramatisch sei das gewesen, die Bank hatte dem Vater die Hypothek gekündigt, um die Übernahme quasi zu erzwingen. Und kurz darauf verstarb unerwartet die Mutter. «Sie war die gute Seele der Familie, hat immer ausgeglichen, geglättet – und wenn es zu schlimm war, hat sie ein rosa Tuch drübergelegt.» Dieses symbolische Bild zeigt, dass es mit dem übereifrigen Vater alles andere als einfach war.
Und doch hat Agnes Seiler viel von ihm mitbekommen. Auch sie ist erfinderisch, unternehmerisch, ihrer Zeit stets voraus. «Go with the flow», umschreibt sie ihr Motto. «Was dir das Leben gibt, musst du annehmen und das Beste daraus machen.» Aber steuern müsse man «den Flow» dann schon selber, ergänzt sie energisch.
«Kunst im Dorf mit Madame KiK»
Das hat sie immer getan. Nach der Übernahme war das Hotel hoch belastet mit Fremdkapital. Sie sei ein von Grund auf optimistischer Mensch. Aber es gab eine Zeit, da hätte sie am liebsten aufgegeben. Viel Drama habe sie erlebt.
Aber auch viel Positives. Als es 1992 zu viel wurde mit dem Lärm in der Disco und den Beschwerden der Gäste, haben Seilers stattdessen ein Pub eröffnet. Wieder waren sie Vorreiter, wieder wurde es ein Erfolg.
Genauso wie «KiK». Anfang der 1990er-Jahre gehörte Agnes Seiler zu den Gründerinnen des Vereins «Kultur in Kandersteg», in dessen Rahmen sie moderne Kunst nach Kandersteg holen wollte. «Mein Ding war immer: AAAA. Anders als alle anderen, kopieren bringt keinen Erfolg.» Sie riefen das Openair-Symposium «Kunst in Kandersteg» ins Leben, mit dem erst niemand so recht etwas anzufangen wusste. Internationale Künstler wurden bis zu drei Wochen ins Dorf geholt, um ihre Werke an diversen Orten, den heutigen Skulpturenwegen, zu schaffen. Geld für Material war nicht da. Aber der Sturm Vivian war Ende Februar 1990 übers Land gefegt und hatte unzählige Bäume umgeworfen. So bearbeiteten die Künstler eben dieses Holz. Einer habe den Strunk gespalten, mit Beton befüllt und mit einem Seil umwunden. Da sei es los gegangen, erzählt Agnes Seiler: «Das ist doch keine Kunst!», meinten einige, «das könnten wir grad selber machen!» In der Beiz haben sie Zigaretten ausgedrückt und gesagt: «Das ist KiK, das ist Kunst», und ich erhielt den Beinamen «Madame KiK». Später folgten weitere Events, wie der «Kultur-Märit» und die «Kandersteger Märli-Wochen». 22 Jahre war sie im Verein die treibende Kraft.
Im Pub die Nacht zum Tag gemacht
Auch musikalisch hat Agnes Seiler das Tal bewegt. Ende der 1980er-Jahre wurde in Frutigen das Singer- and Songwriter-Festival gegründet. Die Bands waren im «Alfa Soleil» und weiteren Hotels untergebracht. «Oft wurde im Pub die Nacht mit Jamsessions zum Tag.» Und eines Nachts sei dann die Idee geboren worden: Man könnte doch im hauseigenen Pub den noch unbekannten Bands eine Plattform bieten. So entstand «Kander Valley Rock». Ein- oder zweimal im Jahr fand der Anlass statt, pro Abend seien drei bis vier Bands aufgetreten. Aber überlebt habe wohl keine von ihnen.
Seit 2013 ist Agnes Seiler im «Ruhestand». Wobei Ruhe nicht zu ihr passt. Ob sie noch Pläne hat? «Sonst könnte ich ja gleich sterben», antwortet sie vehement, «ich bin noch nicht fertig!»
Die Familie war und ist ihr wichtig: Die Zeit mit ihrem Mann, den Kindern und Grosskindern geniessen. Und Geschichten schreiben. Sie habe da etwas im Köcher. Ob es ihr gelinge, wisse sie nicht, sie sei ja nicht mehr die Jüngste.
Dafür aber reich an Erfahrung! Vieles wurde von aussen an sie herangetragen. Aber sie habe immer etwas daraus gemacht. «Ich kann nicht einfach da sein. Man muss mindestens etwas mitgestalten.» Das hat sie in der Tat getan.