WEIHNACHTSGESCHICHTE Am Weihnachtstag trat Karl B., Richter im Ruhestand, aus der Türe und in die Gasse. Er hatte eine schöne Wohnung in der Altstadt, lebte gerne «mitten im Kuchen», wie er zu sagen pflegte. Er verstand nicht, warum andere sich aufs Land zurückzogen, ausgerechnet nach der Pensionierung, wo sich erwiesenermassen sowieso alles andere zurückzieht. Sein Ruf als Richter war, kurz zusammengefasst, «streng aber gerecht». Er wusste um diesen Ruf, gefallen hatte er ihm nie. Zu oft hatte er ihn gehört von einst geschlagenen Kindern, wenn sie etwas über ihre Väter sagen sollten.

In den Gassen war es beissend kalt. Die Menschen eilten mit bleichen Gesichtern an ihm vorbei; wie immer an diesem Tag waren sie noch hektisch auf Geschenksuche. Er grinste in sich hinein, froh darüber, mit all dem Klimbim nichts zu tun zu haben. Einmal war er verheiratet gewesen, das war lange her. Jetzt, stadtaufwärts gehend, dachte er wieder einmal an seine damalige Frau und fragte sich, wie es ihr wohl ging? Die Ehe hatte nicht lange gedauert und war kinderlos geblieben. Warum sie ihn verlassen hatte, verstand er nie. Derart geräuschlos hatte sich die Trennung vollzogen, dass er sie fast nicht mitbekam. «Du interessierst dich einfach nicht für mich», hatte sie oft gesagt. Was sollte er mit so einer Feststellung anfangen? Obwohl als Richter kein schlechter Analytiker, war er im Umgang mit sich selber ziemlich einfallslos.

Er näherte sich dem Stammlokal, in dem er sich mit zwei alten Freunden zu einer Flasche Wein verabredet hatte. Als er eintrat und zu ihrem Stammtisch blickte, sass da noch keiner. Aha, auch sie rennen noch den letzten Geschenken hinterher. Er setzte sich, bestellen konnte er schon mal, denn die drei Herren, der eine war Zahnarzt, der andere gewesener Banker, tranken immer das Gleiche. Als die beiden die Weinstube betraten, trugen sie, wie von Karl richtig vermutet, Plastiktaschen bei sich.

«So, seid ihr fündig geworden? Kann das Fest der Liebe steigen?», witzelte Karl. Schnaufend setzten sich die beiden an den Tisch. «Schenken», fuhr Karl mit etwas trotzigem Gesicht fort und deutete auf die Plastiksäcke, «ist ja schliesslich der Sinn der Weihnacht.»
«Ach du, immer musst du urteilen, kannst halt nicht anders, gell. Aber es steckt viel mehr dahinter, wovon du halt keine Ahnung hast.»
«Was denn zum Beispiel?»

Dem Zahnarzt fiel gerade keine Antwort ein, worauf Karl meinte: «Gell, bist Fragende halt nicht gewohnt, zu lange lagen sie vor dir mit offenen Mündern.» «Und nicht in staunender Bewunderung», knurrte jetzt der Banker.

So fanden die drei Männer zu ihrer vertrauten Heiterkeit zurück und die leidige Sinnfrage zu Weihnachten war auch vom Tisch.

Es war schon dunkel, als sie auf die Gasse traten, dafür stand die Stadt nun in vollem Lichterglanz. Sie verabschiedeten sich. Die beiden Freunde hatten es längst aufgegeben, den Karl zu ihren Weihnachtsfesten einzuladen, und wünschten ihm wie immer nur einen schönen Abend. In den Gassen war es ruhiger geworden und Karl zog es noch nicht nach Hause. So bummelte er den Schaufenstern entlang, staunte einmal mehr, was die Menschen alles brauchten, zugleich darüber, was alles er nicht brauchte. An Weihnachten erreicht der Konsumrausch seinen Gipfel, sagte er laut, als sässen seine Freunde noch bei ihm.

Als er in die Nähe des Münsters kam, fingen die Kirchenglocken an zu läuten. Es wurde zum Gottesdienst gerufen. Da gerade wieder eine giftige Bise durch die Gassen fegte und ihm winzige Eiskörner ins Gesicht wehten, trugen ihn seine Füsse Richtung Kirchenportal. Drinnen brauste bereits die Orgel, und da er schon einmal da war, betrat er die Kirche.

Vorne leuchteten die Kerzen an einer grossen Tanne und es war angenehm warm. Die hinterste Bank war noch leer; er setzte sich. Dann ging noch einmal die Kirchentüre auf, und hastig setzte sich eine Frau neben ihn. Sie roch nach Kälte und Schnee. Als der Pfarrer zu sprechen begann, blickte er die Frau verstohlen von der Seite an. In diesem Moment schlug sie eine Seite ihres Umhanges zurück und da sah er, dass sie ein Kind auf dem Arm hatte. Es schlief. Das erstaunte und irritierte Karl so sehr, dass er fast nicht mehr wegschauen konnte. Nach einer Weile schlug das Kind die Augen auf, runde, staunende Augen, und dann lächelte es den alten Mann an. Die Frau rückte das Kind zurecht, so dass es jetzt sass und blickte wieder geradeaus.

Nun hörte Karl dem Pfarrer zu, der sprach jetzt von einem Kind. Als König erwartet, als schutzbedürftiges Kind gekommen, nicht in Paläste einziehen wollend, sondern in die Herzen der Menschen. Das Kind war eine Verheissung, ein Versprechen dafür, nicht mehr allein zu sein, der Liebe und der Hoffnung vertrauen zu dürfen, der Kraft einer wegweisenden Begleitung. Stimmt, blitzte es im Richterkopf auf, ganz allein kann es schnell schief gehen. Nun blickte er an der Wand auf den gekreuzigten Jesus, der alles, was er auf Erden tun wollte und konnte, hinter sich hatte. Er blickte wieder auf die Krippe, wo der Anfang, das Neue, die Zukunft unscheinbar und verletzlich lag und zwischen diesen beiden Bildern lag ein ganzes, reiches Leben. Und wieder schaute er zum Kind neben sich, das war nun hellwach, schien die ganze Kirche zu sehen, drehte sein Köpfchen nach allen Seiten. Als die Orgel wieder losbrauste, erschrak es und sein Geschichtchen verzog sich wie kurz vor dem Weinen. Die Mutter streichelte über seinen Kopf, dann lauschte das Kind mit allen Sinnen, wie es Karl schien.

Als die Menschen nach dem Segen zügig dem Ausgang, ihren eigenen Festen entgegen gingen, blieb die Frau noch sitzen. Karl mochte sich nicht an ihr vorbeidrücken. Ruhig blickte er auf das Kind, bis ihm die Mutter seine Mütze aufsetzte und es wieder unter dem Umhang verschwand.

Später, im erleuchteten Eingang schaute er der Frau ins Gesicht und sah das blaue, geschwollene Auge, die geschwollene Wange im jungen Gesicht. «So ist das also», dachte er bei sich – und eine ihm bekannte, inzwischen in einer Versenkung deponierte Wut, kochte wieder in ihm hoch. Hoffentlich kommt jetzt nicht wieder die leidige Türpfostengeschichte!

Die Frau sah, dass er es gesehen hatte, und sagte nichts.

Als sie ins Freie traten, war der grosse Platz schon fast menschenleer und der Eisregen hatte inzwischen noch zugenommen. Nebeneinander überquerten sie den Platz. «Wie die heilige Familie, die keine Herberge finden konnte», fiel Karl ein, und augenblicklich verbot er sich diesen unangebrachten Vergleich. In den schützenden Lauben angekommen sagte er: «Sie können nicht nach Hause», und das war nicht als Frage gemeint. Die Frau widersprach ihm nicht. Als sie stadtabwärts gingen, brach es aus ihr heraus: «Er kam wieder betrunken nach Hause und schlug unsere Weihnachtsstube kaputt.» Sie blieben stehen, er nahm ihr die Tragtasche ab, stellte sich kurz vor und versprach zu helfen. Es gebe immer Hoffnung, immer einen Weg, das hätten sie beide ja eben gehört.

In der Altstadt gingen sie in ein kleines Hotel, in dem er oft Besuche einquartierte, und er regelte das Nötige an der Rezeption. Für einen Kaffee und belegte Brote wollten sie sich noch in die Bar setzen. Die Frau legte den Umhang ab und schälte das Kind aus seinen Winterkleidern. «Er heisst Simon», sagte sie und lächelte ihr Söhnchen liebevoll an. Simon sass heiter auf ihrem Schoss und blickte neugierig um sich. Schüchtern, leise begann die Frau zu erzählen, aufmerksam hörte er zu. Für ihn war es Neues und Altbekanntes zugleich. Es erschütterte ihn auch, wie ähnlich sich die Geschichten immer noch waren.

«Nicht gerade ein schönes Weihnachtsessen», meinte er, als das Bestellte gebracht wurde. «Doch!», widersprach sie ihm, «genau das».

Er werde zum Frühstück wieder da sein, versprach Karl beim Abschied, und leichten Fusses ging er durch die Gasse heimwärts. Er wunderte sich, wie lebendig er sich fühlte. Zu Hause setzte er sich in seinen bequemen Lesesessel, schenkte sich ein Glas alten Whisky ein und prostete sich selber zu: «So, Karl, du wirst nicht ruhen, bevor Mutter und Kind nicht in Sicherheit sind.» Etwas zu pathetisch, korrigierte Karl den Karl sogleich. Unrealistisch war er nicht, dafür wusste er zu viel. In diesem Moment aber galt nur sein Versprechen. Das gab er in dieser heiligen Nacht dem Kind in der Krippe oder dem kleinen Simon, was für ihn so ziemlich dasselbe war. Und dass er sich selbst noch so überraschen konnte, erfüllte ihn in diesem Moment mit grosser Freude.

SYLVIA LORETAN

Der Richter und sein Versprechen

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