1969 hatte Annerösli Zryd bereits bewiesen, dass sie die norditalienische Abfahrtsstrecke im Griff hat. Doch ein Trainingsunfall im Sommer und schlecht gewachste Ski gefährdeten die Chancen auf den Weltmeistertitel heute vor 50 Jahren.

HANS HEIMANN
Mit fast zwei Sekunden Vorsprung gewann Annerösli Zryd 1969 das Vorweltmeisterschaftsrennen vor der amtierenden Abfahrts-Olympiasiegerin Olga Pall. Dieser erste internationale Triumph machte die Adelbodnerin nebst der Französin Isabelle Mir zu einer der Favoritinnen der 21. Alpinen Skiweltmeisterschaft 1970 im italienischen Gröden.

Doch die Vorzeichen gaben wenig Hoffnung auf einen erneuten Zryd-Sieg auf der «Cir-Piste». Während eines Hallentrainings im Vorsommer fiel sie unglücklich und zog sich eine langwierige Rückenverletzung zu. Der Arzt verordnete ihr die konventionelle Behandlung auf dem Streckbett, welche die Berner Oberländerin in die Skisaison 1969/1970 begleitete. Ob sie an der Weltmeisterschaft würde fahren können, darüber herrschte lange Ungewissheit, denn auch ihr Leistungsausweis war nicht vielversprechend. Die Verantwortlichen setzten der 20-Jährigen ein Ultimatum und forderten bei der letzten Abfahrt vor der WM eine Platzierung unter den ersten zehn. Tatsächlich hielt sie dem Druck stand, behielt die Nerven, wurde in Garmisch-Partenkirchen Neunte und hatte somit das WM-Ticket im Sack.

Unterstützung von Bruder und Direktor
In Gröden machte sie bereits im Training auf der technisch nicht allzu schwierigen Piste einen guten Eindruck. Als ihr gemeldet wurde, dass ihr Bruder Bruno Zryd mit dem Adelbodner Kurdirektor und Nationalrat Fred Rubi ebenfalls am WM-Ort eingetroffen seien, strahlte das Gesicht der Athletin wieder. Rubi war derjenige, der das Talent der Adelbodnerin schon früh erkannt hatte, und ihr Bruder wusste wohl am besten, welche Unterstützung seine Schwester für eine Spitzenleistung brauchte. Rückblickend umschreibt sie die Bruder-Schwester-Beziehung folgendermassen: «Bruno war für mich wie eine Art Privatbetreuer
– einer, dem ich voll vertraute, einer, der mir Sicherheit und Ruhe gab.» Gemeinsam betrieben sie zielbewusst die letzten Vorbereitungen für das grosse Rennen.

Weiteres Wachsdebakel verhindert
Wie damals üblich, wurden die Ski am Vorabend durch einen Spezialisten der Firma Toko gewachst. Am Tag vor der Damen-Abfahrt fand die Entscheidung im Herren-Riesenslalom statt. Jakob Tischhauser aus Parpan war nach dem ersten Lauf ein Tag zuvor auf Medaillenkurs. Doch dann waren seine Ski für den zweiten Lauf völlig «verwachst», und er wurde bloss Gesamt-Elfter.

Derselbe Wachs-Fachmann hatte bereits am Abend die Ski für die Damen präpariert. «Es herrschte grosse Unruhe unter uns Athleten und in der Teamleitung», erinnert sich Tischhauser heute, und dann hätten die Verantwortlichen verlauten lassen: «Jakob, mach du es!» Für den Bündner war die WM ja schon gelaufen, und in der Folge übernahm er die Aufgabe des suspendierten Toko-Mannes. Er pröbelte mit Paul Berlinger, damals Herren-Trainer, mit Ski und Wachs im Gelände des Skilifts oberhalb des Mannschaftshotels Alaska in Wolkenstein. Sie analysierten die Schneebeschaffenheit, massen dessen Temperatur und wachsten am Morgen die Ski für die Abfahrerinnen um – auch die für Annerösli Zryd. Diese hatte sich am Vorabend der Entscheidung wie jeden Abend noch auf dem Streckbett behandeln lassen und hatte anschliessend gut geschlafen: «Ich wusste, dass es gut kommt.»

Sieg mit grossem Vorsprung
Über Nacht hatte es geschneit, und es war kalt im Grödnertal. Olga Pall eröffnete die Abfahrt. Durch den frisch gefallenen Schnee verlor die Österreicherin aber an Tempo. Annerösli Zryd ging mit der Startnummer fünf ins Rennen. Sie bewältigte die einzig technisch ernstzunehmende Schwierigkeit der Strecke, eine S-Kurve beim Waldeingang, ausgezeichnet. So gewann sie entscheidend an Zeit und setzte sich an die Spitze.

Die danach startenden Favoritinnen verloren schon im ersten Streckenabschnitt mehr als eine halbe Sekunde auf die Führende. Doch die Piste wurde offenbar schneller, und die Spannung stieg, als bei Fahrerinnen mit höherer Startnummer hervorragende Zwischenzeiten gestoppt wurden. Aber an die Bestzeit kamen sie nicht mehr heran. Zryd gewann mit einem Vorsprung von einer halben Sekunde vor Isabelle Mir und sogar mit über zwei Sekunden vor Annemarie Moser-Pröll aus Österreich. Nach zehn Jahren hatte die Schweiz endlich wieder eine Ski-Weltmeisterin. Die WM-Prämie damals: 5000 Schweizer Franken und ein Farbfernseher.

Das ganze Dorf feierte
So war denn der Empfang am darauffolgenden Montag für «ds Annerösli» in ihrem Dorf enorm für die damalige Zeit. Es herrschte Hochsaison, und gegen 5000 Leute waren trotz stetig fallendem Schnee und beissender Kälte auf den Beinen und warteten auf die frischgebackene Weltmeisterin. «Ich bin froh, wieder daheim zu sein, die Fahrt war ermüdend», liess sie als erstes verlauten.

Unter den prominenten Gästen aus der Politik waren der Regierungspräsident, der Berner Stadtpräsident sowie der bernische Staatsschreiber anwesend. Mit Oberst Zumstein war sogar das Militär vertreten. Ebenfalls an der Feier waren Delegierte des Schweizerischen sowie des Berner Oberländischen Skiverbands. Alle feierten sie die neue Weltmeisterin mit Feuerwerk und Musik bis zum Morgengrauen. Für das Lohnerdorf war es nach Frieda Dänzers Erfolg von 1958 bereits die zweite Weltmeister-Feier und übrigens die einzige Medaille der Schweizer Damen in der ganzen Skisaison 1969/1970.

Vom Streckbett aufs WM-Podest

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