BLICK IN DIE WELT - Kohlen nach zweierlei Art
06.03.2020 KolumneKohlen nach zweierlei Art
Wales ist ein spezieller Flecken Erde: Anders als Irland liegt es auf der gleichen Insel wie der dominante Bündnispartner England. Aber im Gegensatz zu Schottland scheint es bei den Walisern keine übermässig starke Abspaltungsbewegung zu ...
Kohlen nach zweierlei Art
Wales ist ein spezieller Flecken Erde: Anders als Irland liegt es auf der gleichen Insel wie der dominante Bündnispartner England. Aber im Gegensatz zu Schottland scheint es bei den Walisern keine übermässig starke Abspaltungsbewegung zu geben.
Dabei hätten die Waliser gerade mit dem Brexit Gründe genug, die Engländer zu verlassen und sich aus dem Vereinigten Königreich zu verabschieden. Denn Wales ist zwar ein landschaftlich unglaublich schöner Flecken, wirtschaftlich darbt das Land aber. Der geneigte Fernsehzuschauer konnte das zum Beispiel an der Trash-TV-Sendung «The Valleys» beobachten. Dort ging es darum, dass junge Leute aus den Hunderten Tälern, die es in Wales gibt, in die Hauptstadt Cardiff verfrachtet werden, um dort zusammen zu feiern. Es ist eine Adaption der amerikanischen TV-Serie «Jersey Shore». Im Vergleich mit dem amerikanischen Mutterprodukt fallen in Wales aber mit unglaublicher Geschwindigkeit alle Hemmungen. Es sind Dorfbewohner, die da zum ersten Mal in die Grossstadt eintauchen.
Ich erzähle von dieser TV-Sendung nicht, weil diese Kolumne plötzlich zur TV-Kritik werden soll. Und auch nicht, weil ich die Sendung einem offenen Publikum besonders ans Herz legen will. Ich erzähle von dieser Sendung vor allem, weil sie der Wahrheit entspricht. Zumindest war es eines der wildesten Nachtleben, das ich je erlebt habe, als ich vor einiger Zeit ein verlängertes Wochenende in der walisischen Hauptstadt Cardiff verbrachte.
Unter «wildem Nachtleben» muss man sich nicht eine südländisch-fröhliche Party vorstellen, sondern ein Fest, das ohne Rücksicht auf Verluste geführt wird. Ich war damals etwas schockiert von dieser Art zu feiern. Und habe mich bei einigen Einheimischen erkundigt, woher denn diese Einstellung komme.
Die Antwort war nur halb befriedigend: Man habe halt nichts zu verlieren in Wales. Und darum feiere man so hemmungslos, um wenigstens diese Empfindung möglichst intensiv zu haben. Ein Barmann brachte mich dann auf eine bessere Erklärung: Wales sei historisch gesehen ein Bergbau-Land. Das bedeute: kurze Lebenserwartung und viel Geld, das man auf einmal ausgeben kann. Tatsächlich habe ich am nächsten Tag erfahren, dass der Kohleabbau lange Zeit absolut prägend für das Land war. Und ich habe gehört, dass sich das Land nie mehr richtig davon erholt habe – weder wirtschaftlich noch emotional. Das – man muss es wohl fast so nennen – degenerierte Nachtleben in Cardiff erscheint als Folge eines tiefsitzenden Komplexes.
Ich persönlich finde diese Erklärung zumindest nicht ganz falsch. Natürlich erfasst sie die Problematik nicht in ihrer ganzen Tiefe. Aber dass ein ganzes Land in eine kollektive und nachhaltige Krise verfallen kann, halte ich nicht für ausgeschlossen.
Was mir dabei Angst macht, ist nicht nur die Verzweiflung der walisischen Jugend, die sich mit Alkohol- und Drogenexzessen als Lebensinhalt zufriedenzugeben beginnt. Sondern auch die Vorstellung, dass ganz viele andere Länder von so einer Entwicklung gefährdet sind: Stellen wir uns nur einmal vor, wie all die Erdölländer ohne Erdöl einmal funktionieren können. Es gibt Ausnahmen, wie zum Beispiel Norwegen, das sich der Gefahr bewusst ist, und schon lange Massnahmen vorbereitet. Oder die Vereinigten Arabischen Emirate, die ihren Kleinstaat konsequent auf eine Dienstleistungs zukunft ausrichten.
Die grosse Menge der Erdöl fördernden Staaten steuert aber mehr oder weniger ungebremst aufs Ende der Erdöl-Ära zu. Und das wird nicht nur das Feiern in diesen Staaten von Grund auf verändern.
SEBASTIAN DÜRST
SEBASTIAN.DUERST@BLUEWIN.CH