KOLUMNE – ZAHLEN IN WORTEN - Das list när niemer – oder doch?
27.03.2020 KolumneDas list när niemer – oder doch?
Zahlen in Worten – der Übertitel meiner Kolumne – finden wir heute überall. Ich kann mich an kaum eine andere Zeit erinnern, in der sich so viele Gespräche um Zahlen drehten. Oder in welcher die Medien so viele Zahlen ...
Das list när niemer – oder doch?
Zahlen in Worten – der Übertitel meiner Kolumne – finden wir heute überall. Ich kann mich an kaum eine andere Zeit erinnern, in der sich so viele Gespräche um Zahlen drehten. Oder in welcher die Medien so viele Zahlen herumreichten.
Von der «Vernummerisierung» von Texten hat unser Deutschlehrer für Vorträge oder Aufsätze immer abgeraten («Wüu es lists när niemer»). Im Krisenjournalismus haben die Zahlen aber ihren Platz gefunden. Wir alle haben langsam die Schnauze voll von ihnen, von den Zahlen. Sie prasseln auf uns nieder, wenn wir das Radio anmachen, eine Zeitung aufschlagen oder unseren Kopf sonst irgendwie aus dem Schneckenhaus strecken, in dem gerade ein Grossteil von uns lebt. Und doch sind wir fast ein bisschen süchtig nach diesen Coronazahlen, nach den Heilungschancen, den Todesraten, nach Spitalbett-pro-Kopf-Rechnereien. Nach der Grösse von Hilfspaketen, nach der Anzahl Tage bis zur Einführung eines Impfstoffs, nach Börsenindizes, nach Anzahl im Ausland feststeckender (L)Eidgenossen.
Es sind die Zahlen dieser Pandemie, die uns Angst machen. Es sind die Zahlen, die hoffen lassen, es werde vielleicht doch bald schon wieder ruhiger in der Schweiz. Vor allem sind es die Zahlen, die Verwirrung stiften. Ich bin keine Virologin und kann die Schwere dieser Coronazahlen kaum gewichten. Worte hierzu überlasse ich den Fachleuten. Als Mathematikerin sage ich aber, dass Zahlen wohl meist richtig – aber alle unter gewissen Bedingungen – entstanden sind. Und diese müssen die Leserin und der Leser kennen. Und einschätzen können, zum Beispiel dank sinnvollen Vergleichen. Leider lassen sich auch so schnell zweifelhafte Wahrheiten kreieren. «Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast», so ein bekanntes Sprichwort. Ich will nicht grundsätzlich von böswilligen Fälschungen ausgehen, aber Coronazahlen sollte man sich mit Vorsicht zu Gemüte führen.
Natürlich spielen Zahlen eine wertvolle Rolle im Kampf gegen das Virus. Die Universität Basel etwa arbeitet eng mit dem Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut zusammen, um die Ausbreitung von Infektionskrankheiten mit mathematischen Modellen zu verstehen und bremsen zu können. Für eine wissenschaftliche Verwendung sind Zahlen von grossem Nutzen, für eine psychologische nicht.
Etwas harmloser sind da andere Mengenbegriffe. Zum Beispiel das Wort «voll». Voll ist der Kühlschrank, voll sind die Telefonlinien. Alle Hände voll zu tun haben die Menschen, die in den für uns lebenswichtigen Branchen arbeiten. Voll sind die sozialen Medien, mit guten Witzen, mit schlechten Witzen, mit Solidaritätsaufrufen und Initiativen, die das Ganze etwas erträglicher machen.
Voll sind auch die Camps in Griechenland. Um dessen BewohnerInnen kümmern sich die hiesigen Medien im Moment wenig und die Politiker noch weniger. Die Parlamentssäle sind (umstrittenerweise) leer. Strassen sind leer, Züge sind leer. Auch (die meisten) Kassen sind leer. Leer sind die Agenden, die Desinfektionsmittelspender, demensprechend leer die natürlichen Bakterien- und Virenbestände auf meinen Händen. Grösstenteils leer sind zurzeit die zusätzlich eingerichteten Spitalbetten in und um Bern. Leer kann man sich fühlen angesichts der angeordneten Einsamkeit. Eigentlich ist mehr leer als voll. In diesem Sinne lasse ich auch die letzte Zeile meiner Kolumne leer:
VALERIE KOLLER
VALERIE.KOLLER@BLUEWIN.CH
PS: Ich hatte mir ganz fest vorgenommen, meine Kolumne nicht von Corona infizieren zu lassen. Hat nicht geklappt. Ich hoffe, die sonst schon geplagte Leserschaft verzeiht mir.