Zwei Jahre Untersuchungshaft sind selten, aber zulässig
06.03.2020 GesellschaftJUSTIZ Seit 2018 sitzt der Mann, der seine Frutiger Partnerin mutmasslich umgebracht und die Leiche danach in ihrem Haus verbrannt hat, in U-Haft. Wie lässt sich dieser massive Eingriff in die Persönlichkeitsrechte rechtfertigen?
Die Untersuchungshaft für den ...
JUSTIZ Seit 2018 sitzt der Mann, der seine Frutiger Partnerin mutmasslich umgebracht und die Leiche danach in ihrem Haus verbrannt hat, in U-Haft. Wie lässt sich dieser massive Eingriff in die Persönlichkeitsrechte rechtfertigen?
Die Untersuchungshaft für den Verdächtigen, der die Tat im Februar 2018 in Frutigen begangen haben soll, ist Mitte Februar 2020 erneut um sechs Monate bis Mitte August 2020 verlängert worden. Das Bundesgericht hat eine Beschwerde des Beschuldigten abgewiesen. Bereits vor einem Jahr hatte das höchste Schweizer Gericht den dringenden Tatverdacht gegen den Mann bestätigt und eine Freilassung aus der Untersuchungshaft abgelehnt. Die Leiche der 41-jährigen Frau war im Februar 2018 nach einem Bauernhausbrand in Frutigen in der Brandruine gefunden worden.
Der mutmassliche Täter sitzt nunmehr seit gut zwei Jahren ohne Anklage und ohne Urteil hinter Gittern. Gegen den Mann wird wegen vorsätzlicher Tötung, Brandstiftung und Störung des Totenfriedens eine Strafuntersuchung geführt. Für juristische Laien stellt sich die Frage nach der Rechtmässigkeit einer derart einschneidenden, ungewöhnlich langen Massnahme.
Untersuchungs- und Sicherheitshaft sind Zwangsmassnahmen im schweizerischen Strafprozessrecht, welche von der Staatsanwaltschaft im Rahmen einer Ermittlung respektive eines Prozesses beim Zwangsmassnahmengericht beantragt werden können. Mit Inkrafttreten der eidgenössischen Strafprozessordnung (StPO) am 1. Januar 2011 ist die Untersuchungshaft gesamtschweizerisch einheitlich geregelt worden.
Dringender Tatverdacht
Gemäss Art. 221 StPO muss eine Person einer Tat dringend verdächtig sein, damit die Untersuchungshaft zulässig ist. Zudem muss eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt sein:
• Es ist ernsthaft zu befürchten, dass sich die verdächtige Person durch Flucht dem Strafverfahren oder den zu erwartenden Sanktionen entzieht (Fluchtgefahr).
• Es ist ernsthaft zu befürchten, dass die verdächtige Person die Wahrheitsfindung beeinträchtigt, beispielsweise durch Beeinflussung von Zeugen oder Einwirkung auf Beweismittel (Verdunkelungsgefahr).
• Es ist ernsthaft zu befürchten, dass die verdächtige Person die Sicherheit anderer durch Verbrechen oder schwere Vergehen erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat (Wiederholungsgefahr).
• Es ist ernsthaft zu befürchten, dass die verdächtige Person eine Drohung, ein weiteres Verbrechen zu verüben, wahr macht oder versuchen könnte, eine misslungene Tat doch noch umzusetzen (Ausführungsgefahr).
Wurde die Person bereits von der Polizei vorläufig festgenommen, so muss die Staatsanwaltschaft binnen 48 Stunden die Untersuchungshaft beantragen oder die Freilassung veranlassen.
Gemäss Justizstatistik sitzen in der Schweiz derzeit rund 1900 Verdächtige in Untersuchungshaft. Das ist knapp ein Viertel aller in Haftanstalten einsitzenden Personen. Wegen der Gefahr von Absprachen sind sie oft in Einzelzellen untergebracht, ohne Beschäftigung, mit bloss einer Stunde Hofgang pro Tag.
Speditive Behandlung
Andreas Jenzer, ehemaliger Untersuchungsrichter und Staatsanwalt, weist darauf hin, dass die Justizorgane Haftfälle speditiv zu behandeln haben, damit die Inhaftierung nicht unnötig lang dauert. «Die Untersuchung kann natürlich durch Umstände in die Länge gezogen bzw. verzögert werden, die nicht bei der Staatsanwaltschaft liegen, zum Beispiel durch das Erstellen von Gutachten, die Beschaffung von Beweismitteln vor allem im Ausland, durch komplizierte Sachverhalte (mehrere Delikte), durch mehrere Mittäter oder durch das Befragen von zahlreichen Geschädigten.» Der in Haft sitzenden Person ist es grundsätzlich jederzeit gestattet, bei der Staatsanwaltschaft ein Haftentlassungsgesuch zu stellen. Laut Jenzer stellen die bernischen Haftgerichte (und auch die Beschwerdekammer des Obergerichts und das Bundesgericht) hohe Anforderungen an die Haftgründe, d.h., im Zweifel wird für den Beschuldigten entschieden.
Im Fall eines Haftentlassungsgesuchs wird laut Jenzer immer auch die Verhältnismässigkeit der U-Haft geprüft, ein Grundsatz, der überall bei staatlichem Handeln zu berücksichtigen ist. Die inhaftierte Person darf in ihrer persönlichen Freiheit nicht stärker eingeschränkt werden, als es der Haftzweck sowie die Ordnung und Sicherheit in der Haftanstalt erfordern.
Ersatzmassnahmen
Bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit werden auch mögliche Ersatzmassnahmen geprüft. U-Haft darf nur angeordnet werden, wenn keine milderen Mittel existieren. Kann beispielsweise die Fluchtgefahr durch eine elektronische Fussfessel oder eine Kaution unter die Haftschwelle gesenkt werden, so ist Untersuchungshaft unverhältnismässig und darf nicht angeordnet respektive bestätigt werden.
Unverhältnismässig ist Untersuchungshaft auch dann, wenn deren Dauer die zu erwartende Dauer der Freiheitsstrafe überschreitet. Das heisst: «Beim Entscheid wird das mutmassliche Strafmass hinzugezogen, d.h., die Untersuchungshaft darf nicht länger dauern als die wahrscheinliche Dauer der voraussichtlichen Freiheitsstrafe», erläutert Jenzer.
Nach seiner Erfahrung funktioniert der Mechanismus mit Anordnung der Untersuchungshaft und gerichtlicher Überprüfung im Kanton Bern gut. Der Jurist erlebte zu Berufszeiten nur selten einen Fall, in dem die durch ihn angeordnete Untersuchungshaft nicht bestätigt wurde.
Auszug aus dem Urteil
Weshalb also befindet sich der mutmassliche Frutiger Täter nach wie vor in U-Haft? Weil ein dringender Tatverdacht vorliegt. In seinem ersten Urteil zum Frutiger Fall stellte das Bundesgericht 2018 fest: «Die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Delikte wiegen ausserordentlich schwer. Vorsätzliche Tötung allein wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft (Art. 111 StGB). Dies stellt einen erheblichen Fluchtanreiz dar. Hinzu kommt, dass gestützt auf die Ausführungen (...) davon auszugehen ist, dass der Beschwerdeführer bereits einen Fluchtversuch unternommen hat (...) Selbst wenn heute eine Flucht weniger aussichtsreich erscheint als (direkt) nach dem Hausbrand, so ist die Gefahr eines Untertauchens angesichts der drohenden Strafe und des Verhaltens des Beschwerdeführers in jenem Zeitraum hinreichend hoch, dass Ersatzmassnahmen nicht ausreichend erscheinen.»
Nächster Schritt der Justizbehörden ist nun das Erheben der Anklage(n) gegen den mutmasslichen Frutiger Täter. Dieser Schritt indes ist noch keine Garantie, dass der Verdächtige freigelassen wird. Möglich ist nämlich, dass er bis zum Prozess von der U-Haft in eine Sicherheitshaft überführt wird, die sich im praktischen Alltag von der Untersuchungshaft nicht unterscheidet.
PETER SCHIBLI, JURIST, GÜMLIGEN / ADELBODEN