BLICK IN DIE WELT - Vom Rand der Gesellschaft
24.04.2020 KolumneVom Rand der Gesellschaft
Seit dem Lockdown kann ich ausser Wandern keine meiner bevorzugten sportlichen Aktivitäten mehr ausführen. Um trotzdem nicht völlig ausser Form zu kommen, habe ich einen Sport wieder aufgenommen, den ich eigentlich überhaupt nicht mag: Ich ...
Vom Rand der Gesellschaft
Seit dem Lockdown kann ich ausser Wandern keine meiner bevorzugten sportlichen Aktivitäten mehr ausführen. Um trotzdem nicht völlig ausser Form zu kommen, habe ich einen Sport wieder aufgenommen, den ich eigentlich überhaupt nicht mag: Ich jogge jetzt drei Mal pro Woche eine abendliche Runde. Ich mache das bewusst ohne Musik. Denn ich will meine Umgebung wahrnehmen – schliesslich führt die Strecke idyllisch durch einen Wald und an einem Fluss entlang.
Was ich in den letzten Tagen wahrgenommen habe, war aber nicht nur Vogelgezwitscher und Wasserplätschern. Es waren auch laute Stimmen und Musik. Es roch nach Bier. Es waren die Randständigen, die in normalen Zeiten im Umkreis des Bahnhofs verkehren, merkte ich rasch. Dort wurden sie von der Polizei vertrieben: Menschenansammlungen von mehr als fünf Personen sind verboten. Diese Leute halten es aber zu Hause nicht aus, es gibt einen Grund, weshalb sie den ganzen Tag am Bahnhof verbringen. Wie manch einem von uns im Homeoffice fällt ihnen wohl täglich die Decke auf den Kopf, wenn sie nicht nach draus sen gehen können.
Ich habe darum ein gewisses Verständnis, dass sie jetzt so in den – zugegeben idyllischen – «Untergrund» von Glarus verdrängt werden. Und ich kann auch verstehen, dass Menschen, die sonst schon viele Probleme haben, unter der aktuellen Situation noch viel mehr zu leiden haben. Nicht bewusst war mir aber etwas ganz anderes: Ich probiere immer auch, Gesprächsfetzen aufzunehmen, wenn ich an den Randständigen vorbeijogge. Eines Abends drehte sich die Diskussion offenbar darum, warum sie eigentlich nicht mehr am Bahnhof sein dürfen. Der eine meinte, weil das die Regierung so will. Ein anderer warf ein, dass es von der EU komme. Und ein Dritter vermutete nicht ganz falsch, dass es wohl ungesund sei, den ganzen Tag am Bahnhof zu trinken. Kurz: Diese Leute haben keine Ahnung, was das Coronavirus ist, sie sind nicht Teil einer Gesellschaft, die bundesrätliche Appelle ernst nehmen kann oder nicht, weil sie diese gar nicht mitbekommen.
Und das ist gefährlich. Den traurigen Beweis dafür liefert in diesen Tagen Singapur: Der blitzsaubere Stadtstaat, in dem sogar das Ausspucken eines Kaugummis mit drakonischen Strafen belegt wird, hat seit einigen Tagen massive Anstiege bei den Corona-Fallzahlen zu verzeichnen. Und das, nachdem das Land zu Beginn der Pandemie noch als Musterschüler galt, der das Virus von Anfang an mit massiven Einschränkungen bekämpfte. Woher kommen die neuen Fälle? Es sind praktisch ausschliesslich ausländische Gastarbeiter, die mit 15 oder mehr Zimmergenossen unter elenden Umständen hausen müssen. Im Gegensatz zur Mitte der Gesellschaft standen sie nie im Fokus der behördlichen Massnahmen. Das rächt sich jetzt bitter. Denn das Virus macht keinen Unterschied zwischen Gastarbeiter und Millionär. Und nun hat die Plage Singapur voll im Griff.
Das sollte für uns ein Warnschuss sein: Anstatt darüber zu motzen, dass wir nicht in den Gartenbeizen hocken können, sollten wir uns darum kümmern, dass die Botschaft und die Informationen über das Virus auch die Bevölkerungsschichten erreichen, die nicht am gesellschaftlichen Leben partizipieren. Das können die Randständigen vom Bahnhof sein. Oder die Ausländer, die schlicht nicht verstehen, was der Bundesrat erzählt. Ich habe mir auf jeden Fall fest vorgenommen, bei meiner nächsten Joggingrunde einen Halt einzulegen und Aufklärungsarbeit zu leisten.
SEBASTIAN DÜRST
SEBASTIAN.DUERST@BLUEWIN.CH