Neustart
Es kommt vor, dass ich meinem Computer einfach den Stecker ziehe. Selten bringt mich etwas zur Weissglut – aber ein Computer, der nicht begreift, was ich von ihm möchte, der schafft das.
So sitze ich vor diesem Bildschirm und gebe zum x-ten Mal einen Befehl ...
Neustart
Es kommt vor, dass ich meinem Computer einfach den Stecker ziehe. Selten bringt mich etwas zur Weissglut – aber ein Computer, der nicht begreift, was ich von ihm möchte, der schafft das.
So sitze ich vor diesem Bildschirm und gebe zum x-ten Mal einen Befehl ein. Und irgendwie kommt der nicht an. Zum Verzweifeln!
Auch wenn alle technisch-elektronisch Versierten wegen mir nun die Hände über den Kopf schlagen: Ich ziehe in solchen Fällen den Stecker. Und wissen Sie was? Ob nun richtiger Lösungsweg oder nicht: Es hilft! Das ganze System einfach mal runterfahren und wieder neu starten.
Im Moment kann ich meinem Computer zum ersten Mal richtig nachfühlen. Jemand hat meinen Stecker gezogen. Seit fünf Wochen muss ich «runterfahren». Keine Sitzungen, keine Ausflüge, keine Besuche, Arbeit von zu Hause aus, kein Kaffee mit Freundinnen und ein absolut leerer Terminkalender.
Unsere Gesellschaft erlebt in diesen Tagen hoffentlich eine einmalige Situation – wir wurden dazu gezwungen, uns aufs Wesentliche zu konzentrieren, uns zurückzuziehen und uns nur noch aus der Ferne zu begegnen. Eine Gesellschaft, die Gesellschaft nicht leben darf? Schwierig für uns alle.
Und doch gibt es in dieser Luftblase aus räumlicher Distanz plötzlich Platz für kleinere oder grössere Familienprojekte, Platz zum Nachdenken, Platz für Aufräum aktionen, für Nachbarschaftshilfe, für Ideen, für neue Projekte, für Telefonate und Skype-Apéros mit Freunden, mit denen man doch schon lange wieder einmal plaudern wollte. Wir haben wieder Zeit. Zeit haben – ein Geschenk, über das wir uns vor diesem gesellschaftlichen Stillstand wahrscheinlich gefreut hätten.
Nach dem Runterfahren kommt irgendwann der Neustart, das gilt für uns genauso wie für meinen Computer. Bei ihm erwarte ich aber, dass er nach dem Neustart wieder einwandfrei funktioniert und seine Macken abgelegt hat.
Was bedeutet also so ein Neustart für uns? Genau gleich weitermachen wie vor der Zwangspause? Zurück ins alte Fahrwasser? Ich denke, dass wir trotz der Tragik, die hinter der jetzigen Situation steckt, als Gesellschaft eine riesige Chance erhalten haben: Wir dürfen neu starten.
Damit ein Neustart gelingt, müssen Strukturen hinterfragt und eventuell angepasst werden. Wir können bekannte Fehler ausmerzen. Vielleicht gelingt es uns sogar, dass wir uns neue persön liche Ziele stecken und unser Verhalten – wo nötig – hinterfragen und ändern.
Wir können die Zeit jetzt nutzen und alles über Bord werfen, was wir nicht mehr brauchen und nicht mehr wollen, damit wir, wenn es dann soweit ist, unseren Neustart voller Energie, Elan, Ideen, ohne Altlasten und mit der nötigen Musse durchziehen können.
BARBARA JOST
BAEBU.JOST@BLUEWIN.CH