KOLUMNE – FROM THE OTHER SIDE - Die Sache mit dem Alleinsein
21.04.2020 KolumneDie Sache mit dem Alleinsein
Vor vielen Jahren – sicher vor mehr als zehn, aber nach 2002 – habe ich im «Stauffacher» eine Essaysammlung gekauft einzig wegen ihres Namens: «How to be alone» vom amerikanischen Schriftsteller Jonathan Franzen. Den kannte ich damals ...
Die Sache mit dem Alleinsein
Vor vielen Jahren – sicher vor mehr als zehn, aber nach 2002 – habe ich im «Stauffacher» eine Essaysammlung gekauft einzig wegen ihres Namens: «How to be alone» vom amerikanischen Schriftsteller Jonathan Franzen. Den kannte ich damals noch nicht, hatte seine «Korrekturen» noch nicht gelesen, die ihn ohne Zweifel quasi über Nacht zu einem der wichtigsten zeitgenössischen Autoren machten, aber der Titel – auf Deutsch zunächst als «Anleitung zum Einsamsein» und später als «Anleitung zum Alleinsein» erschienen – und das Cover hatten meine Neugier geweckt. Ich war damals kein besonders glücklicher Mensch, und vom Buch erhoffte ich mir genau, was der Titel versprach: eine Anleitung zum Alleinsein. Seit mehreren Jahren hatte ich das Gefühl, dass mir der soziale Austausch, die Geselligkeit, nicht ganz so einfach fiel wie anderen. Ich hatte Freunde, war aber kein Gruppentier. In Vereinen fühlte ich mich unwohl. Ich war ständig verliebt, aber immer nur in eine Projektion. Und weil ich ausserhalb von Büchern niemanden mit ähnlichen «Problemen» kannte, musste es ja an mir liegen. Daher das Unglücklichsein und das ständige Hadern mit mir selbst.
Als ich auf Franzens Buch stiess, hatte ich schon seit Längerem genug davon. Ich war bisher erfolglos geblieben, mich selbst zu ändern. Also würde ich stattdessen daran arbeiten, mit mir selber glücklich zu werden. «How to be alone» war letztlich nicht besonders hilfreich dabei. Franzen sagt zwar, dass es in seinen Essays darum gehe, wie man Individualität in einer immer lauteren Massenkultur bewahren kann, aber eine konkrete Anleitung, auf die ich damals hoffte, lieferte er nicht. Es dauerte Jahre, bis ich an einem Punkt angelangt war, an dem ich ohne Selbstbetrug sagen konnte: Ich bin wohl mit mir allein. Und bis heute ist mir das meine wichtigste Errungenschaft geblieben.
Warum erzähle ich das? Seit Wochen ist die Welt, wie wir sie kennen, nicht mehr die gleiche. Vielleicht verlassen wir das Haus noch, um zu arbeiten oder um einkaufen zu gehen. Oder für einen Spaziergang. Aber ansonsten bleiben wir zu Hause. Keine Freunde zum Abendessen, kein Fitnessstudio, kein Feierabendbier in der Kneipe, kein Kino, kein Schwimmbad, kein Fussball. Kein Grosi-Besuch am Sonntag, keine Kindergeburtstage, keine Hochzeitsfeiern, keine Trauermahle. Die Welt ist ruhig geworden. Und wir sind allein. Vielleicht leben wir mit einem Partner oder mit Kindern oder in einer Wohngemeinschaft. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass wir allein leben, ist gross. In der Schweiz leben 16 Prozent der Wohnbevölkerung in einem Einpersonenhaushalt, in Australien sind es sogar 24 Prozent. In Australien darf sich pro Haushalt theoretisch nur eine zusätzliche Person aufhalten – meine Partnerin darf also ihre Eltern besuchen, aber ich muss zu Hause bleiben. Ich darf allein eine Freundin besuchen. In den Bus darf ich mich auch setzen (der ist sowieso meistens leer im Moment). Aber nur, weil ich darf, soll ich auch? Also bleiben wir allein.
Wir müssen dabei nicht einsam sein. Neulich haben wir mit fünf anderen Paaren via Skype einen Kochwettbewerb durchgeführt. Die Yoga-Lektionen finden auf Zoom statt. Dank «Netflix Party» und WhatsApp habe ich mit einer Freundin gemeinsam einen Film geschaut. Meetings finden per «Windows Teams» statt. Wenn ich tanzen wollte, gäbe es genügend DJs, die den Club ins Netz verlegen. Und wer liest, der weiss auch, dass man mit Büchern niemals einsam ist. Beginnen Sie doch mit Jonathan Franzens «Die Korrekturen». Mit rund 800 Seiten kommen Sie damit sicherlich durch den Lockdown. Allein, aber nicht einsam.
SANDRA BUOL
BUOL.SANDRA@GMAIL.COM