KOLUMNE – WIR MÜSSEN REDEN …! - Mami, du machst das super!
03.04.2020 KolumneMami, du machst das super!
Unausgesprochene Erwartungen sind so oft der Grund für Konflikte und Enttäuschungen. Meine bald 80-jährige Mutter ist vor Kurzem an Brustkrebs erkrankt – und zeigt mir, wie sinnvoll es ist, wenn man darüber redet, was man braucht.
Kurz ...
Mami, du machst das super!
Unausgesprochene Erwartungen sind so oft der Grund für Konflikte und Enttäuschungen. Meine bald 80-jährige Mutter ist vor Kurzem an Brustkrebs erkrankt – und zeigt mir, wie sinnvoll es ist, wenn man darüber redet, was man braucht.
Kurz vor Weihnachten entdeckte meine Mutter eine Rötung an der Brust und einen Knoten. Der Besuch bei der Gynäkologin bestätigte den Verdacht: Brustkrebs. Die Brust musste sofort amputiert werden. Inzwischen steckt meine Mutter mitten in der Chemotherapie.
Schon beim ersten Gespräch mit den behandelnden Ärzten kommunizierte meine Mutter klar, was sie erwartet: «Ihr müsst mich ja nicht abschreiben, ich will noch leben. Ich habe zwei kleine Enkelkinder, die will ich aufwachsen sehen.»
Diese Ansage kommt nicht von ungefähr. Vor einigen Jahren meinte ein Arzt leicht vorwurfsvoll zu ihr: «Wie alt wollen sie eigentlich noch werden?» Als meine Mutter entgegnete, sie habe nicht vor, so bald zu gehen, ihre Schwiegermutter sei über 90 und noch topfit, da reagierte der Arzt ziemlich ungehalten: «Das sind dann diejenigen, die unser AHV-System belasten.» Autsch. Kein Wunder also, wehrt sich meine Mutter seither vehement bei den Ärzten.
Zwar ist sie mit ihren fast 80 Jahren eigentlich noch sehr fit. Doch das letzte Jahr hatte es in sich. Die Krebsdiagnose kam nur fünf Monate nach einer notfallmässigen Rückenoperation, ausserdem plagt sie seit einiger Zeit starker Schwindel. Umso beachtlicher, wie sie stets positiv bleibt. Dazu gehört eben auch, dass sie klar kommuniziert, was sie braucht und was eben nicht.
Als mein Vater bestürzt auf die Krebsdiagnose meiner Mutter reagierte, meinte sie: «Du musst nun sicher keinen ‹Lätsch› machen. Ich kann jetzt nur fröhliche Gesichter um mich herum brauchen.» Uns Kindern sagte sie, dass sie sich über tägliche SMS freuen würde, um zu spüren, dass wir an sie denken und ihr Mut machen. Und es würde ihr helfen, wenn wir sie öfter anrufen. Das gebe ihr Halt. Als eine Freundin der Familie sagte: «Jetzt hast du diese schreckliche Krankheit auch», da betonte meine Mutter einmal mehr, dass sie genau solche Worte nicht hören will. Sie sei vielmehr «schwanger» mit ihrer Gesundheit. Genau wie in einer Schwangerschaft sei sie vermehrt müde, es sei ihr übel und sie habe komische Essensgelüste.
Natürlich weiss ich, dass nicht jeder einer solchen Diagnose mit dieser positiven Einstellung begegnen kann. Meine Mutter ist zeitlebens ein Stehaufmännchen – es ist sicher eine Gabe und ein ganz grosses Geschenk, wenn man dem Leben so begegnen kann. Einige werden wohl denken, es ist auch ein Unterschied, ob eine junge Mutter oder eine 80-Jährige an Krebs erkrankt. Ja, aber: Ich finde, meine Mutter macht das unglaublich super!
Natürlich kostet es sie auch Kraft, immer positiv zu bleiben. Und sicher gelingt ihr das nicht immer gleich gut. Aber für mich ist sie ein grosses Vorbild. Sie zeigt mir, wie sehr es helfen kann, wenn man seine Erwartungen ganz klar artikuliert und adressiert. Denn seien wir ehrlich: Unausgesprochene Erwartungen sind nur zu oft der Grund von Enttäuschungen. Unausgesprochene Erwartungen sind Gift, in der Freundschaft, der Partnerschaft, der Nachbarschaft – überall, wo Menschen aufeinandertreffen.
Natürlich kann es schön sein, wenn unser Gegenüber uns wie ein offenes Buch lesen kann. Aber ist das tatsächlich auch ein Liebesbeweis? Ist es nicht viel mehr ein Vertrauens- und Liebesbeweis, wenn ich ihm die Möglichkeit gebe, so zu agieren und reagieren, wie ich es erwarte, wie es mir hilft? Und will ich überhaupt ein offenes Buch sein? Ist es nicht schöner, sich immer wieder neu zu begegnen? Was schadet es, wenn ich meine Bedürfnisse und Erwartungen offen darlege? Viel mehr glaube ich, dass wir so – ohne Umweg über Konflikte, Missverständnisse und Enttäuschungen – den Boden bereiten, für Beziehungen auf Augenhöhe. Nur ausgesprochene Erwartungen können auch erfüllt werden. Ich bin überzeugt: Wir müssen mehr miteinander reden – vor allem auch über unsere Erwartungen!
RACHEL HONEGGER
WIRMUESSENREDEN@FRUTIGLAENDER.CH