KOLUMNE – DERFÜR U DERWIDER - «Dene wos guet geit …»
19.05.2020 Kolumne«Dene wos guet geit …»
Fast hätten wir sie vergessen, die negativen Schlagzeilen über die vielen humanitären Katastrophen aus aller Welt abseits der Corona-News. Soweit eigentlich durchaus angenehm und eine willkommene Erholung für unser arg geplagtes Gewissen. Im ...
«Dene wos guet geit …»
Fast hätten wir sie vergessen, die negativen Schlagzeilen über die vielen humanitären Katastrophen aus aller Welt abseits der Corona-News. Soweit eigentlich durchaus angenehm und eine willkommene Erholung für unser arg geplagtes Gewissen. Im gemütlichen Sessel vor dem Ultra-High-Definition-TV und den Dips und Snacks wirken solche Nachrichten sowieso immer etwas deplatziert und fremd.
Dennoch erlaube ich mir, uns an einige dieser Krisen zu erinnern: In Jemen wütet nach wie vor ein schrecklicher Bürgerkrieg. Die Folgen davon sind Zerstörung, Hunger und Armut für 30 Millionen oft traumatisierte Bürger des Staats im Süden der Arabischen Halbinsel. Noch näher an unserem gemütlichen Sessel vor dem Fernseher liegt Syrien. 11 Millionen Flüchtlinge und über 400 000 Tote hat der zerstörerische Krieg bisher gefordert. Viele dieser Vertriebenen sind in einem Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos und damit in der Hölle gelandet. Asylsuchende auf dem Mittelmeer setzen verzweifelte Hilferufe ab, werden aber von den EU-Staaten ignoriert. Aber auch direkt vor unserer Haustüre, auf den Strassen und in den abgelegenen Gassen findet das Elend seine Opfer und die Not fordert ihren Tribut. Was aber, fragen wir uns und richten uns dabei in unserem Fauteuil etwas auf, geht uns das alles an? Was kümmern uns die Not der anderen oder die Krisen der Welt? Und gemeinsam singen wir das Lied vom steten Wachstum, vom gelobten Wohlstand und von unersättlicher Gier.
Schnitt. Das alte Lied von Mani Matter liegt mir in den Ohren: «Dene wos guet geit, giengs besser, giengs dene besser, wos weniger guet geit.» Das Lied steht quer zu unserem Streben nach «höher» und «mehr». Aber da ist dennoch keine moralische Note und kein flehender Appell an unser Gewissen erkennbar. Einfach eine nüchterne, pragmatische Feststellung, die kaum ernsthaft entkräftet werden kann. Da ist von Mehrwert, von Win-win die Rede. Eine Sprache, die wir Kinder der freien Markwirtschaft («dene wos guet geit …») bestens verstehen.
Zu welcher dieser Personengruppen gehören wir denn eigentlich? Zu denen, denen es gut geht und denen es noch besser gehen könnte? Oder sind wir die, denen es weniger gut geht und für die das bessere Leben ein trauriger Konjunktiv bleibt? Die Statistik über die weltweite Vermögensverteilung sagt uns Folgendes: Falls sich in deinem Kühlschrank Essen befindet, du angezogen bist, ein Dach über dem Kopf hast und ein Bett zum Hinlegen, bist du reicher als drei Viertel der Einwohner dieser Welt. Falls du ein Konto bei der Bank hast, etwas Geld im Portemonnaie und etwas Kleingeld in einer kleinen Schachtel, gehörst du zu den acht Prozent der wohlhabendsten Menschen auf dieser Welt. Wir, die wir im Sessel sitzen, gehören zu den Privilegierten dieser Welt. Aber Achtung, dieser Wohlstand ist trügerisch! Wir meinen, etwas zu besitzen, sind aber in Wirklichkeit selbst die Besessenen im wahrsten Sinn des Wortes, die Getriebenen der Leistungsgesellschaft, gefangen in der Angst um unseren Reichtum und um unsere Privilegien. Zurück zum Anfang und zur Frage, was uns die Krisen der Welt denn überhaupt angehen. Vielleicht helfen uns diese Beobachtungen weiter: Ein grosser Teil der Not und der Armut auf dieser Erde ist ein Produkt und eine logische Folge unseres Wohlstands und unseres unbändigen Verlangens nach mehr. Unsere überdimensionierten ökologischen und ökonomischen Fussabdrücke sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache. Unsere Waffenexporte bewerten wir einseitig und fast ausschliesslich auf wirtschaftliche Kriterien beschränkt. Die von der Not Vertriebenen werden zunehmend als Bedrohung für unseren Wohlstand und unsere Kultur betrachtet, anstatt der feinen inneren Stimme zu folgen und Hilfe zu leisten.
Gerechtigkeit geht definitiv anders! Aber wie? Wer der vielen Marktschreier hat das richtige Rezept? Vielleicht hat es die 19-jährige amerikanische Studentin auf den Punkt gebracht, als sie auf Facebook schrieb: «Wenn du mehr hast, als du brauchst, dann baue einen längeren Tisch, keine höheren Mauern.»
HANS PETER BACH
HANSPETER.BACH@LIVENET.CH