KOLUMNE – GEDANKENREISE - Nachtleuchten
22.05.2020 KolumneNachtleuchten
Die Nächte im April waren aussergewöhnlich mild. Auch tagsüber war es warm und zudem sonnig, aber es war ein wenig ungemütlich, weil man nicht ohne schlechtes Gewissen hinausgehen konnte. Deshalb haben meine jüngste Tochter und ich unsere Schlafsäcke ...
Nachtleuchten
Die Nächte im April waren aussergewöhnlich mild. Auch tagsüber war es warm und zudem sonnig, aber es war ein wenig ungemütlich, weil man nicht ohne schlechtes Gewissen hinausgehen konnte. Deshalb haben meine jüngste Tochter und ich unsere Schlafsäcke gepackt, um am Waldrand zu übernachten. Das hat viele Vorteile. Man braucht sich keine Gedanken zur Ansteckung zu machen. Man muss keine Abstände einhalten. Und ganz besonders toll: Das Tal ist viel stiller als sonst. In unserer Umgebung einen einigermassen flachen Schlafplatz am Waldrand zu finden, ohne Mist (ungemütlicher Geruch) oder hohes Gras (Schaden für die Landwirtschaft), ist jedoch eine Herausforderung. Mit etwas Geduld wurde unsere Suche von Erfolg gekrönt. Dann folgte das Mätteli-Aufblasen, das Schlafsack-Ausrollen und das Biwaksack-Überziehen. Bei diesen ganzen Aktivitäten bewunderten wir wieder einmal die Tiere, die sogar im Winter ohne diesen ganzen Kram auskommen.
Wie dem auch sei, es war lustig und amüsant, sich draussen einzurichten. Irgendwann waren wir dann schön kuschelig eingepackt und hatten die Hangneigung einigermassen im Griff. Wir schauten der Dunkelheit beim Wachsen zu und dem Tageslicht beim Schwinden, bewunderten die immer zahlreicher werdenden Sterne, lauschten den Vogelstimmen und den Geräuschen im Wald und begannen, langsam müde zu werden. Wir schlossen schon ab und zu die Augen, um sie dann aber schnell wieder zu öffnen. Wir wollten nichts verpassen und den Sternenhimmel ausgiebig geniessen, bevor sich die angekündigten Wolken davorschieben würden. Wir hatten sogar daran gedacht, die Sirius-Sternkarte mitzunehmen, um uns ein bisschen besser am Himmel zurechtzufinden.
Dieser grandiose Blick ins Weltall ist immer wieder von Neuem faszinierend und erstaunlich. Praktisch alle von blossem Auge sichtbaren Sterne gehören zu unserer eigenen Galaxie, in der sich unser Sonnensystem befindet. Schätzungen zufolge hat es allein in der Milchstrasse 100 bis 300 Milliarden Sterne. Daneben gibt es aber offenbar über 50 Milliarden weitere Galaxien, die sich mit der heutigen Technik beobachten lassen. Über 50 Milliarden! Eine einzige Galaxie kann schon mal einen Durchmesser von mehreren Hunderttausend Lichtjahren haben. Es ist unglaublich und macht immer wieder demütig. Das Weltall hat eine Grössenordnung, die man einfach nicht begreifen kann.
Plötzlich, wir trauten unseren Augen kaum, zog eine ganze Lichterkette lautlos über den Nachthimmel. So leise wie sie gekommen war, verschwand sie auch wieder. Eine zweite Lichterkette erschien, zog über den Himmel und verschwand. Wir waren platt. So etwas hatten wir noch nie gesehen. Was konnte das sein? Sternschnuppen in Einerkolonne auf einer Art Umlaufbahn? Schön gerade aufgereihte Meteoriten? Leuchtende Engel? Wir nahmen an, dass es nichts von alledem sein würde, aber es war trotzdem schön, einen weiteren Grund zum Staunen zu haben. Wir rätselten noch eine Weile, freuten uns über Sterne, Stille und Waldkauz und schliefen schliesslich ein.
Natürlich waren wir am nächsten Morgen ganz erfüllt von unserer Waldrand-Nacht und erzählten zu Hause begeistert von Polarstern, Sternbildern, morgendlichem Vogelkonzert und auch von den faszinierenden Lichterkolonnen. Unsere Männer lächelten ein wenig mitleidig und meinten, wir hätten ja keine Ahnung. Die Lösung sei «bubieinfach». Das seien die Satelliten von «SpaceX» gewesen … Also ehrlich, mir hat die Vorstellung von den leuchtenden Engeln besser gefallen.
SABINE DÄNZER
SABINE.DAENZER@DAENZER.CH