KOLUMNE – QUERGESEHEN - Daheim bleiben auf Französisch
12.05.2020 KolumneDaheim bleiben auf Französisch
Wissen Sie, was confinement bedeutet? Es ist im Französischen das allgegenwärtige Wort für die Verhältnisse, die wir neudeutsch als «Lockdown» kennen. Von «Lockdown» spricht in der Westschweiz niemand, confinement heisst das dort.
Daheim bleiben auf Französisch
Wissen Sie, was confinement bedeutet? Es ist im Französischen das allgegenwärtige Wort für die Verhältnisse, die wir neudeutsch als «Lockdown» kennen. Von «Lockdown» spricht in der Westschweiz niemand, confinement heisst das dort.
Es ist aufschlussreich, den unterschiedlichen Gehalt der beiden Begriffe zu vergleichen. «Nous sommes confinés», sagen die Welschen – oder auch «nous sommes semi-confinés», weil ja die Schweiz nur halbwegs stillgelegt wurde. Das französische confinement meint also den Zustand, der einem beim Zuhausebleiben widerfährt; être confiné ist eine Befindlichkeit. Die deutsche Sprache behandelt uns völlig anders: Confinement hat kein deutsches Pendant, es ist in den Wörterbüchern nur unzulänglich übersetzt mit «Hausarrest», «Ausgangsbeschränkung», «Ausgangssperre». Oder eben «Lockdown». All diese Begriffe beschreiben keine Befindlichkeit, sondern eine behördliche Verfügung. Die Französischsprachigen reden von einem subjektiven Erlebnis, die Deutschsprachigen vom obrigkeitlichen Akt, der dieses Erlebnis herbeiführt. Oder nochmals anders gewendet: Deutschschweizer beschreiben mit dem «Lockdown» die Schliessung von Geschäften, Schulen, Gaststätten – während die Westschweizer mit dem confinement ausdrücken, was die Schliessung zur Folge hat: Man bleibt zu Hause.
Natürlich schwingt auch im Wort confinement der Umstand mit, dass die Beschränkung von aussen auferlegt und keineswegs freiwillig ist. Und doch ist man als confiné näher bei sich selber, fühlt sich im Zustand des confinement irgendwie aufgehoben. Das Wort klingt auch angenehmer als seine martialischen deutschen Übersetzungen. Nicht umsonst sagte neulich eine Poetin im Westschweizer Radio, confinement erinnere sie an wohligen confort und an süsse confiture.
Viele Linguisten und Hirnforscher sind überzeugt, dass die Sprache in erheblicher Weise unser Denken beeinflusst. Dies führt zur Frage nach der Wirkungskraft des aktuellen Schlüsselworts confinement. Bekanntlich begegnet die Romandie der Lockerung von Corona-Schutzmassnahmen deutlich skeptischer als die Deutschschweiz; der politische Druck für eine beschleunigte Rückkehr zur Normalität stammt fast ausschliesslich aus dem deutschsprachigen Landesteil. Erklärt wird dies manchmal mit der grösseren «Staatsgläubigkeit» der Romands, vor allem aber damit, dass die Westschweiz – namentlich Genf und die Waadt – von der Pandemie überdurchschnittlich betroffen sind.
Könnte es sein, dass auch ein dritter Faktor – die Sprache – zur welschen Regeltreue beiträgt? Kommen die Romands einfach besser mit ihrem wohltönenden confinement zurecht als wir mit dem Aus- und Eingesperrtsein? Se confiner heisst «sich zurückziehen» – in dieser rückbezüglichen Form ist von Zwang schon gar nicht mehr die Rede. Dafür klingt in dem Wort auch die confiance mit, was soviel heisst wie Zuversicht und Vertrauen. Sogar fin steckt noch drin: fein!
Jedenfalls sind die Welschen um ihr confinement zu beneiden. Und jetzt erst recht um das Gegenteil: Was bei uns umständlich als «Lockerung der Beschränkungen» umschrieben wird, heisst ennet der Saane schlicht und präzise: déconfinement.
TONI KOLLER
TONI_KOLLER@BLUEWIN.CH