Jede Krise sei auch eine Chance, lautet ein geflügeltes Wort, und man kann davon ausgehen, dass dies auch für Seuchen und Pandemien gilt. Im 14. Jahrhundert wütete die Pest und raffte einen Drittel der europä ischen Bevölkerung dahin. Als das Sterben endete, boten sich ...
Jede Krise sei auch eine Chance, lautet ein geflügeltes Wort, und man kann davon ausgehen, dass dies auch für Seuchen und Pandemien gilt. Im 14. Jahrhundert wütete die Pest und raffte einen Drittel der europä ischen Bevölkerung dahin. Als das Sterben endete, boten sich für viele Menschen neue Chancen. Allerorten fehlten ja plötzlich die Arbeitskräfte. Grundherren und Handwerksmeister mussten plötzlich um ihr Personal werben, die Löhne stiegen, die Arbeitsbedingungen verbesserten sich rasant.
Auch die Cholera-Epidemien des 19. Jahrhunderts hatten im Rückblick positive Auswirkungen. Nachdem man erkannt hatte, dass die tödlichen Erreger im verschmutzten Wasser lauern, baute man eine hygienische Wasserversorgung auf und etablierte ein funktionierendes Kanalisationsnetz. Man begann, den Zusammenhang zwischen Krankheiten und Wohnverhältnissen zu verstehen, was den Städtebau revolutionierte.
Solche Errungenschaften konnten freilich nur jene geniessen, die von der Seuche nicht zuvor schon hinweggerafft wurden. Denn das ist eben die andere Seite der Medaille: Ehe etwas Neues entstehen kann, muss das Alte erst einmal verschwinden, Platz machen für das Nachfolgende. Auch die Corona-Pandemie bietet solche Beispiele. Der gerade auf dem Land übliche Händedruck zur Begrüssung, die vertrauten Küsschen links und rechts sind vorerst abgeschafft. Ob und in welcher Form solche Rituale die Krise überleben, wird man wohl erst in einigen Monaten oder Jahren absehen können. Wenn man noch mitten drinsteckt im Umbruch, sind Prognosen für die Zukunft meistens schwierig.
Das gilt seit Neustem auch für die Zeitung, die Sie gerade in der Hand halten oder ganz modern auf einem Bildschirm lesen. Was man schon weiss: Den «Frutigländer» in seiner heutigen Form wird es bald nicht mehr geben, die letzte Ausgabe erscheint in gut einem Monat. Wird etwas anderes die Lücke füllen können? Und falls ja: Wird das Neue, das da kommt, noch eine traditionelle, raschelnde Papierzeitung sein? Wir wissen es nicht.
Jede Krise ist auch eine Chance, das mag sein. Was genau diese Chance war, wird man allerdings erst mit einigem Abstand beurteilen können.
MARK POLLMEIER
M.POLLMEIER@FRUTIGLAENDER.CH