UNTERLÄNDER IM OBERLAND - Die wohltuende Verlangsamung
15.05.2020 KolumneDie wohltuende Verlangsamung
Vor der Basler Fasnacht kam die Horror-Meldung: Die schönsten drei Tage der Rheinstadt wurden abgesagt. Die Ansteckungsgefahr sei zu gross.
JAMMERTAL!
MAN KANN EINEM BASLER DIE LUFT AB-STELLEN – UND GENAU SO FÜHLTE ER SICH NACH DEM ...
Die wohltuende Verlangsamung
Vor der Basler Fasnacht kam die Horror-Meldung: Die schönsten drei Tage der Rheinstadt wurden abgesagt. Die Ansteckungsgefahr sei zu gross.
JAMMERTAL!
MAN KANN EINEM BASLER DIE LUFT AB-STELLEN – UND GENAU SO FÜHLTE ER SICH NACH DEM FASNACHTSVERBOT.
Die «Bebbi» fielen in ein tiefes, dunkles Loch.
Als die Pandemie noch während dieser schwarzen Fasnacht wie ein riesiger Tsunami über uns hereinfegte, überlegte ich: Was nun? Mein Freund Innocent ist 85 Jahre alt. Das heisst, er ist auch Mitglied der so viel besungenen Risikogruppe. Also: Weg aus der Stadt – ab nach Adelboden!
Das war, bevor der gute Herr Koch empfahl, man soll daheimbleiben. Diese Aussage kam erst zwei Wochen später. Da waren wir bereits im Chalet. Und konnten nicht mehr zurück. Adelboden ist immerhin mein zweites Daheim. Seit über 60 Jahren.
Das Berner Oberland erschien uns fast wie die heile Heidi-Welt: prächtiges Sonnenwetter im April. Der Garten, den wir zu dieser Zeit noch nie blühen sahen. Und alle Leute wunderbar gelassen – keine Hysterie.
Einfach: normaler Alltag.
Natürlich wurde das Virus auch hier zum Gesprächsthema. Aber nachdem sämtliche Fernsehsender uns mit den Toten in den Spitälern oder – noch schlimmer – mit den überfüllten Leichen-Pavillons in Spanien oder Mailand bombardiert hatten, tat diese gewisse Normalität in dem kleinen Ort gut. Das Virus war ein Thema – der ausgetrocknete Boden ein grösseres.
Klar, auch hier war das Bild gespenstisch: Hotels geschlossen. Hochgestellte Stühle in den Restaurants – und die Dorfstrasse mitunter leer.
«Wir können sie gerne beliefern», offerierten uns Bäcker, Metzger und Kleinhändler. Sie haben sich zusammengeschlossen. Und junge Freiwillige schleppten uns die Ware bis vor die Chalet-Tür.
«Und wie bezahlen wir …?»
Der Bäcker winkte ab: «Das regeln wir, wenn alles mal vorbei ist …»
Nach solcher Grosszügigkeit kann man sonst lange suchen!
Innocent schnitt im Garten die Bäume. Eine jüngere Frau hielt am Zaun: «Sagen Sie mir, ob ich etwas für Sie tun kann …» Als er es mir erzählte, hatte er einen Kloss im Hals und musste sich schnäuzen. «Irgendwie gibt es doch noch Hoffnung in der heutigen Welt …»
Plötzlich rückte man näher zusammen – wohlgemerkt: mit gebührendem Abstand. Das tönt zwar absurd, liess sich aber wunderbar bewerkstelligen.
«Morgen mache ich Butter … ich bringe dir ein Mödeli vorbei», meinte meine Nachbarin. Früher redeten wir nur selten miteinander. Keine Zeit. Jeder hatte in dieser früheren, hektischen Welt viel zu tun – sie auf dem Hof, ich am Computer.
Und jetzt? Sie legt mir Hobelkäse an den Gartenzaun. Und goldgelbe Butter. Eine andere Nachbarin bringt hausgemachten Früchtekuchen, Göpfi legt vier Koteletts vom frisch geschlachteten Kalb vor die Türe – plötzlich ist es, als habe sich die Zeit zurückgedreht: zurück in jene Jahre, als die Uhren hier tatsächlich langsamer liefen. Und wir als Kinder diese Langsamkeit schrecklich langweilig fanden.
DAS WUNDERBARSTE ABER: Die Leute, die ich zu meiner Kinderzeit stets misstrauisch, mürrisch und abweisend erlebt habe, zeigen jetzt ein herzliches Lachen, ein freundliches Gesicht. Jeder fragt den andern, ob man etwas helfen könne – in allem Übel hat das Virus das Gute aus dem Menschen hevorgezaubert.
JA, ES GAB AUCH ANDERES: Als ich an einem dieser strahlenden Apriltage mit meinem Freund zur «Schärmtanne» fuhr, um ein bisschen mit Stock, Abstand und Maske zu spazieren, als wir später mit dem kleinen Fiat zurückholperten und ein Waldbrand am Bach die Gegend vernebelte – da schrien uns drei Frauen, die auf einer Weide hockten und die Sensation des Feuers mit ihren iPhones einfangen wollten, hysterisch zu: «Fahrt ab – zieht Leine! Ihr habt hier nichts zu s uchen!»
Innocent hatte den Hörapparat auf «aus» und die Worte nicht verstanden. Er winkte den Frauen fröhlich zu – «die Meschen sind überall so nett», sagte er.
Ich liess ihn in dem Glauben.
Das Virus, aber auch diese wunderbare, ruhige Bergwelt mit ihren Menschen haben mich gelehrt, die Dinge gelassener zu nehmen.
Wir sehen heute alles mit dieser Langsamkeit, die für uns eine neue Qualität und eine andere Lebensart werden könnte.
Um so etwas zu lernen und zu kapieren, brauche ich weder Politiker noch die V irus-Experten dieser Welt – die einfachen Leute haben mir vorgelebt, was in solchen Zeiten wichtig ist: das Zusammenstehen.
UND DAFÜR WIRD DER DUMME UNTER-LÄNDER DEN WEISEN OBERLÄNDERN FÜR IMMER DANKBAR SEIN.
- MINU
MINU@MINUBASEL.CH