Warum es auch nach 75 Jahren noch nicht vorbei ist
08.05.2020 GesellschaftGEDENKEN Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg droht allmählich zu verblassen, und manchem Zeitgenossen wäre das vielleicht sogar ganz recht. Mich selbst hindert schon meine Nationalität daran, mit jenem katastrophalen Ereignis abzuschliessen – und die eigene Familiengeschichte. ...
GEDENKEN Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg droht allmählich zu verblassen, und manchem Zeitgenossen wäre das vielleicht sogar ganz recht. Mich selbst hindert schon meine Nationalität daran, mit jenem katastrophalen Ereignis abzuschliessen – und die eigene Familiengeschichte.
MARK POLLMEIER
An einem Abend vor etwa zehn Jahren nahm ich in Kandersteg an einer Probe des Kirchenchors teil. Ich war einer vor nur drei oder vier Männern, neben mir sass ein älterer Basssänger. Während die Frauen vorne ihre Stimmen einstudierten, kamen wir ins Gespräch. Aus welcher Gegend Deutschlands ich denn käme, fragte mich mein Sitznachbar, und als ich geantwortet hatte, begann er unvermittelt vom Krieg zu erzählen. Von der Angst, die in jenen Jahren ein ständiger Begleiter gewesen sei, von der Verdunkelung, die seit 1940 angeordnet wurde, von der Lebensmittelknappheit, derentwegen man wo immer möglich Kartoffeln und Gemüse anpflanzte.
Diese Begegnung liess mich ein wenig ratlos zurück. Es war Dezember, wir übten «Go tell it on the mountain» und andere Weihnachtslieder, eigentlich hatte es damals im Kirchgemeindehaus keinen Anlass gegeben, über den Krieg zu sprechen. Meine einzige Erklärung für dieses Thema war meine Nationalität: Ich gehöre jenem Volk an, das diesem Mann einen Teil seiner Kindheit und Jugend gestohlen hatte.
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So ist das wohl, wenn man in Deutschland geboren ist: Man wird die Nazizeit und den Zweiten Weltkrieg nie mehr los. Ich sage das weder bedauernd noch anklagend, es ist schlicht eine Tatsache, eine biografische Erfahrung.
Ich bin 1970 geboren, aufgewachsen in einer Familie, in der sich mittags vier Generationen am Tisch versammelten. Lange, bevor ich in der Schule damit konfrontiert wurde, war mir der Krieg ein Begriff. In Gesprächen und Erzählungen waren die Jahre zwischen 1939 und 1945 immer präsent.
Durch Zuhören erfuhr ich, dass mein Grossonkel Hermann 1939 mit 19 Jahren zum Kriegsdienst eingezogen wurde, was für den landwirtschaftlichen Betrieb seiner Eltern ein grosser Verlust war. Ich hörte, wie erschöpft und verstört er war, wenn er zu kurzen Feldurlauben nach Hause kam – und, dass er stets als erstes das Bild des «Führers» von der Wand nahm, das damals in jedem deutschen Haushalt hing oder zu hängen hatte.
Von seinem letzten Einsatz an der Ostfront kam jener Hermann nicht mehr zurück. Er galt seit Kriegsende als vermisst, was seine Familie nie verwunden hat. Noch mit weit über 80 Jahren sprach meine inzwischen demente Grossmutter fast täglich von ihrem geliebten Bruder.
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Aus den Gesprächen der Gross- und Urgrosseltern lernte ich, dass vor einem nächtlichen Bombardement durch feindliche Flugzeuge «Christbäume» am Himmel standen (Leuchtmunition, mit der man die Ziele markierte). Und, dass man sich tagsüber bei der Feldarbeit schnell unter Kartoffelsäcken versteckte, um den anfliegenden Schützen kein leichtes Ziel zu bieten. Ich hörte von Jakob, dem verschmitzten jüdischen Metzger, der einmal die Woche mit seinem Fuhrwerk ins Dorf kam und Fleisch verkaufte – und irgendwann einfach verschwunden war. Ich lauschte gespannt, wenn meine Grossmutter von Gestapo-Kontrollen erzählte und von ihrer Angst, dass das auf dem Estrich versteckte Fleisch entdeckt würde – denn das Schlachten für den Eigenbedarf war längst verboten worden.
Es gab auch amüsante Geschichten, etwa, wie erstaunt meine Grossmutter war, als sie auf einem amerikanischen Panzer zum ersten Mal in ihrem Leben einen dunkelhäutigen Menschen sah. 22 Jahre alt war sie da und zu Fuss auf dem Weg ins Nachbardorf, zum Schuhmacher. Dann wiederum gruselte ich mich, etwa wenn mein Grossvater von den englischen Luftangriffen auf die Stadt Saarbrücken berichtete, bei dem Menschen «brennend wie Fackeln» durch die Strassen gelaufen seien.
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Rückblickend mutet es merkwürdig an, dass man ein Kind von weniger als zehn Jahren mit solchen Gräuelgeschichten konfrontiert hat. Aber es ging dabei gar nicht um mich. Oft sass ich einfach nur dabei und hörte zu, was die Alten erzählten. Fragen stellte ich selten, und auch das Thema Schuld spielte für mich damals keine Rolle. Fast 30 Jahre nach dem Krieg sprach meine Familie sehr kritisch über das «Dritte Reich». Aber was war davor gewesen? Hatten die Grosseltern und Urgrosseltern Hitler gewählt oder gar unterstützt? Waren sie Mitläufer, wie so viele? Ich weiss es nicht. Aber ich weiss, dass viele Deutsche sich nach 1945 ihre eigene Vergangenheit und Beteiligung an den Naziverbrechen schöngeredet haben.
Mich selbst haben die Anekdoten, die ich als Kind aufgeschnappt habe, gewissermassen imprägniert. Zwar spielten Politik und Gesinnungsfragen darin nie eine Rolle. Doch ich spürte deutlich, welche emotionalen Wunden Krieg und Naziherrschaft in meiner Familie hinterlassen hatten.
Die körperlichen Folgen des Krieges sah ich, sobald ich zum Spielen nach draussen ging. Für mich war es normal, auf der Strasse ältere Männer zu treffen, denen Gliedmassen fehlten. Oder deren Hals steif war, sodass sie immer den ganzen Oberkörper drehen mussten, wenn sie sich einem zuwandten. Fragte ich nach, was denn mit diesem und jenem passiert sei, hiess es lapidar: «Der war im Krieg.»
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Diese Kindheitserlebnisse haben mich tief geprägt. Als ich volljährig wurde, war völlig klar, dass ich nicht zur Bundeswehr gehen würde. Dienst an der Waffe? Für mich undenkbar.
Dass die deutsche Regierung den Zivildienst gerade auf abschreckende 24 Monate heraufgesetzt hatte, war mir gleich. Als sogenannter Wehrdienstverweigerer verbrachte ich meine Zeit in einem Kinderheim.
Bis heute ist mir jeglicher Patriotismus suspekt. Dass auf meinem Pass die «Europäische Union» zuoberst steht und danach erst «Bundesrepublik Deutschland», finde ich völlig in Ordnung. Fassungslos sitze ich dagegen vor dem Fernseher, wenn dieser Tage Demonstranten durch Berlin marschieren und unter dem Deckmantel der Israelkritik «Juden: Kindermörder» brüllen. Dass in Deutschland Brandanschläge auf Synagogen verübt werden, beschämt mich zutiefst. Und die Art und Weise, wie man während der Corona-Pandemie über Alte und Kranke spricht, die man zum Wohl der Wirtschaft sterben lassen müsse, erinnert mich ungut an vergangen geglaubte Zeiten.
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«Irgendwann ist es ja auch mal gut», meinte kürzlich jemand zu mir. Sprich: 75 Jahre nach Kriegsende könne man langsam mal aufhören, sich immer noch an der Nazizeit abzuarbeiten. Ich sehe das anders. Sicher: Als Nachgeborener trifft mich an dem, was Deutschland bis 1945 anrichtete, keine Schuld. Aber ich trage eine Verantwortung dafür, dass sich so etwas wie der Zweite Weltkrieg nicht wiederholt – nicht ausschliesslich, aber doch besonders als Deutscher. Ich verstehe den Wunsch, dieses dunkle Kapitel der deutschen, der europäischen Geschichte endlich einmal abzuschliessen. Ich persönlich kann es nicht.
Dass der Krieg noch immer nicht vorbei ist, zeigt eine weitere Anekdote aus meiner eigenen Familie. Es ist noch nicht lange her, da erhielten wir einen Brief des Roten Kreuzes. Man habe in Polen die sterblichen Überreste von Hermann Klein gefunden, jenem Hermann, der seit Kriegsende als vermisst galt. Man konnte ihn anhand seiner Erkennungsmarke identifizieren, und ausgehend vom Fundort muss er wohl Ende April 1945 gefallen sein. Gestorben ist er irgendwo im grossen Weichselbogen, als die übermächtige Rote Armee auf einer 1200 Kilometer breiten Frontlinie gen Westen vorrückte.
Obwohl ich den Mann nie kennenlernte, hat mich diese Benachrichtigung eigentümlich berührt – vielleicht, weil mich seine Geschichte seit der frühen Kindheit begleitet hat.
Nach seiner Umbettung liegt mein Grossonkel Hermann mit 35000 anderen Deutschen auf einem Soldatenfriedhof nahe des polnischen Katowice (Kattowitz). Das 3,5 Hektaren grosse Waldstück haben die polnischen Behörden zur Verfügung gestellt; es ist dort Platz für weitere 5000 Verstorbene, die nach und nach hinzukommen werden.
Für meine Grossmutter kam die Gewissheit über das Schicksal ihres Bruders zu spät. Sie verstarb wenige Monate, bevor die Nachricht des Roten Kreuzes eintraf.
Der Autor stammt aus dem Saarland. Das kleine deutsche Bundesland an der Grenze zu Frankreich und Luxemburg hat eine äus serst b ewegte Geschichte hinter sich. Kriegsbedingt wechselte es mehrmals die Seiten: Nach dem 1. Weltkrieg stand es unter Regierung des Völkerbunds. Von 1920 an war es als Saargebiet unter franzö sischer Verwaltung. 1935 wurde es unter Hitler wieder ins Deutsche Reich eingegliedert, nach dem Zweiten Weltkrieg wieder von Deutschland abgetrennt und unter französisches Protektorat gestellt. Ab 1947 war das kleine Saarland ein teil autonomer Staat mit eigener Staats bürgerschaft, Nationalhymne und Fussball-Nationalmannschaft. Erst seit 1957 gehört das Saarland zur Bundesrepublik Deutschland.