Erlebnis.Schule platzt aus allen Nähten
09.06.2020 Frutigen, Bildung|SchuleDie Privatinstitution Erlebnis.Schule zieht um, weil die Nachfrage steigt. Die finanziellen Herausforderungen wachsen allerdings ebenso.
YVONNE BALDININI
Einige Kinder schnitzen im Schulgarten aus Knochen Harpunenspitzen und Kettenanhänger. Andere schwärmen mit einem ...
Die Privatinstitution Erlebnis.Schule zieht um, weil die Nachfrage steigt. Die finanziellen Herausforderungen wachsen allerdings ebenso.
YVONNE BALDININI
Einige Kinder schnitzen im Schulgarten aus Knochen Harpunenspitzen und Kettenanhänger. Andere schwärmen mit einem aus Rinden gebastelten Gefäss in den Wald aus, um Beeren zu suchen. Eine dritte Gruppe braut aus selbstgesammelten Heilkräutern Tee, während eine vierte beim Tipizelt Feuer ohne Zündhölzchen entfacht. Die «Steinzeitmenschen-ForscherInnen» sind so eifrig mit ihren Aufgaben beschäftigt, dass eine Pausenglocke stören würde. Zum Unterricht in der Erlebnis.Schule gehört eben, die Kinder «in ihrem Fluss» lernen zu lassen.
Mit dabei ist die sechsjährige Kaja. Ihre Mutter Natalie Mägert meint: «Kaja tut diese Schule gut. Besonders weil sie keine Geschwister hat, macht sie hier viele Erfahrungen mit ‹Gspänli› verschiedenen Alters.» Die Reichenbacherin wollte ihre Tochter schon immer in eine Schule schicken, welche auf ganzheitliche Bildung setzt. «Das Erleben, Handeln und Draussensein ist uns ein grosses Anliegen in der Erziehung unseres Kindes», erklärt sie.
Corona-Krise verstärkt Klassengemeinschaft
Seit der allgemeinen Wiederöffnung der Schulen verbringen die Kinder der Privatschule den Unterricht vorwiegend draussen. Während der Corona-Krise arbeiteten sie an verschiedenen Ideen, welche Lehrerinnen, Eltern und Verwandte auf einer Plattform sammelten. So las etwa eine Grossmutter Geschichten vor, ein Grossvater zeigte in einem selbstgedrehten Film das Leben in seinem Bienenhaus. «Die Zeit zu Hause hat die Klassengemeinschaft noch verstärkt. Die Kinder vermissten einander sehr. Jetzt freuen wir uns alle, wenn wieder mehr Normalität einkehrt», erzählt die Gründerin der Schule, Anna Katharina Baumgartner.
Für Kaja heisst es im August, in die erste Klasse überzutreten. «Ich schätze es, dass sie weiterhin spielen kann, da der Kindergarten bewusst nicht von den Schulzimmern getrennt ist», bekundet Mutter Natalie Mägert. Die Schule sei eine Bereicherung für das Kind, die Familie, ja sogar für Gotte und Götti. Denn die Lehrerinnen beziehen regelmässig das nähere und weitere Umfeld der Kinder ein. «Die Schule schenkt uns Eltern und Verwandten grosses Vertrauen und umgekehrt genauso», umschreibt es die Kindergärtnerin und Heilpädagogin, die selber jede Woche einen Morgen an der Erlebnis.Schule unterrichtet.
«Traumschulhaus» gefunden
2017 hat Anna Katharina Baumgartner die Privatschule mit zwölf Kindern aufgebaut. Waren es im letzten Jahr 22, drängen sich heute 30 SchülerInnen vom Kindergartenalter bis zur vierten Klasse in das Einfamilienhaus am Sagigässli. Die Erlebnis.Schule platzt aus allen Nähten.
Die Frutigerin sieht einen Grund dafür im gesellschaftlichen Wandel: Zum einen hielten viele Kinder dem Leistungs- und Zeitdruck im konventionellen Schulbetrieb nicht mehr stand. Zum anderen setzten sich Eltern gründlich mit der Bildungsthematik auseinander. «Manche haben gerade in der Corona-Krise erlebt, wie bereichernd es ist, an den Aufgaben des Nachwuchses teilzuhaben.» Viele forderten für ihre Sprösslinge vermehrt natürliches Lernen in individuellem Tempo. Anna Katharina Baumgartner, welche 20 Jahre in der Volksschule unterrichtete, stellt fest: «Der Aufenthalt in der Natur entschleunigt die Kinder. Dadurch werden auch jene mit besonderen Bedürfnissen besser ‹tragbar›.» Die Schulleiterin erhält oft gerade von Eltern solcher Sprösslinge Anfragen. Sie möchte aber den Mix von Charakteren beibehalten und nicht als Anziehungspunkt für verhaltensauffällige Kinder gelten, gibt sie zu bedenken. Immer wieder muss sie deshalb interessierten Familien absagen.
Wegen der steigenden Nachfrage suchte die Schulgründerin nach einem neuen Gebäude. Fündig wurde sie im früheren Schulhaus Wengi in der Gemeinde Reichenbach, das bisher den Langlaufnachwuchs des Berner Oberländischen Skiverbands beherbergte. «Es ist mein Traumschulhaus. Die Bäuert Wengi liegt schön ländlich – am Wald und Bach – und in der goldenen Mitte für die Reichenbacher und Frutiger Kinder», schwärmt die Bauerntochter.
«Im Herzen fühle ich mich als Teil der Volksschule»
Doch die Privatschule steht vor grossen finanziellen Herausforderungen. Das Schulgeld aufzubringen, ist gemäss Anna Katharina Baumgartner für die Familien oft schwierig. Diese Situation habe sich wegen der Corona-Krise noch verschärft. 2017 startete die Schulleiterin mit Kindergarten- und Unterstufenkindern, die mittlerweile gewachsen sind. Nun hat sie eine erfahrene Mittelstufenlehrerin angestellt. Diese zu entlöhnen, erfordert eine gewisse Anzahl Elternbeiträge. «Wir müssen grösser werden», ist Anna Katharina Baumgartner überzeugt. Nach wie vor schwebt ihr die Integration in die Volksschule vor. «Im Herzen fühle ich mich als Teil davon», bekennt sie. Bei den Gesprächen mit der Gemeinde Frutigen stiess die Pionierin auf offene Ohren, konnte aber noch nichts konkretisieren. Natalie Mägert meint dazu: «Würde die Erlebnis.Schule zur Volksschule gehören, wäre das schön für uns Eltern. Wir möchten nämlich weder etwas Spezielles noch etwas Besseres sein.» Zudem müssten sie die Schulgebühren nicht mehr selber berappen. Die Mutter wünscht sich von der Politik Erziehungsgutschriften, damit auch Familien Unterstützung hätten, die alternative Bildungsformen vorziehen. «Eine grosse Entlastung wäre es bereits, wenn die Wohngemeinden uns die Beiträge zahlen würden, die die Volksschule einspart, weil unsere Kinder dort kein Schulmaterial beanspruchen», sagt Mägert.
Anna Katharina Baumgartner erfreut sich jetzt erst einmal am baldigen neuen «Zuhause» in Wengi: «Ich bin glücklich, mit dieser Schule wieder mehr Leben in die Bäuert zu bringen.»