KOLUMNE – WIR MÜSSEN REDEN …! - Kinder verkraften die Wahrheit
12.06.2020 KolumneKinder verkraften die Wahrheit
Schon mehrfach habe ich hier über psychische Krankheiten und meine eigene Erfahrung mit einer Depression geschrieben. Noch gäbe es so einiges dazu zu sagen. Durch meinen offenen Umgang mit dieser Krankheit treffe ich immer auf Menschen, die ...
Kinder verkraften die Wahrheit
Schon mehrfach habe ich hier über psychische Krankheiten und meine eigene Erfahrung mit einer Depression geschrieben. Noch gäbe es so einiges dazu zu sagen. Durch meinen offenen Umgang mit dieser Krankheit treffe ich immer auf Menschen, die selbst oder im nächsten Umfeld betroffen sind und sich bisher nicht getraut haben, darüber zu reden oder Hilfe in Anspruch zu nehmen. Viel zu sehr sind psychische Krankheiten noch immer ein grosses Tabu, auch wenn es mindestens jeden Vierten einmal im Leben erwischt.
Und darum möchte ich hier noch einmal die Gelegenheit nutzen und alle – Betroffene, Angehörige, Experten usw. – auffordern: Lasst uns darüber reden! Auch mit unseren Kindern! Denn einerseits machen Burnout, Depression, Angststörung und Co. auch vor dem Kinderzimmer nicht Halt. Laut Studien ist die Zahl der betroffenen Jugendlichen zunehmend. Würde endlich das Tabu fallen, darüber zu reden und aufzuklären, dann ist die Chance hoch, dass diesen Kindern und Jugendlichen frühzeitig geholfen werden kann. Dass sie nicht stigmatisiert werden. Es braucht eine Gesellschaft, die nicht schweigt zu solchen Themen. Damit Kinder und Jugendliche wissen, dass sie keine Zombies sind oder Aussenseiter und dass sie nicht alleine sind mit ihrem Leiden, wenn es zuschlägt.
Dies ist die eine Seite. Die andere Seite betrifft Kinder von betroffenen Eltern. Als meine Depression von einem Tag auf den anderen unser Familienleben auf den Kopf stellte und ich für zwei Monate in eine Klinik musste, war meine Tochter viereinhalb Jahre, mein Sohn zehn Monate alt.
Beim Kleinen war es vor allem wichtig, für so viel Stabilität wie möglich zu sorgen. Reden half da tatsächlich noch nicht so viel, aber auch ihm haben wir erklärt, was vor sich geht – wer weiss, vielleicht hat er ja mehr verstanden als wir denken.
Wichtig war es aber vor allem, unsere Tochter zu begleiten. Ich hab von vielen Müttern gehört, die versuchen, ihren Krankheitszustand vor den Kindern zu verbergen. Die «Starke» spielen. Nur ja keine Schwäche zeigen, nichts erzählen vom Seelenzustand – es könnte den Kindern ja Angst machen und sie belasten. Diese Überlegungen sind durchaus berechtigt. Und doch bin ich sicher und werde darin auch von Experten bestärkt: Schweigen, Verdrängen und Überspielen sind schlimmer und machen letztlich mehr Angst, als kindgerecht darüber reden. Denn diese kleinen Wesen sind so viel feinfühliger, als wir ihnen zugestehen. Wenn es uns nicht gut geht, merken sie das sowieso. Und wenn sie nichts merken dürfen, ist die Chance hoch, dass wir als Eltern auch keine Hilfe holen können. Dann wird es ein Teufelskreis, es geht uns noch schlechter, wir kämpfen uns noch mehr durch, und die Kinder ahnen es umso mehr. Und weil sie es nicht einordnen können und ja spüren, dass man nicht darüber reden darf, können Hirngespinste wachsen bis hin zu Schuldgefühlen.
Darum haben wir, als ich in die Klinik musste, meiner vierjährigen Tochter erklärt, dass Mami in der Seele krank ist. Und die Seele, das sei der Ort, wo man Freude, Glück, Angst, Wut und Trauer spüre. Das Zuhause der Gefühle. Dieses Zuhause könne krank werden und ganz fest weh tun. So, wie es weh tut, wenn man den Arm bricht oder ein Loch im Kopf hat, so sehr und noch viel mehr kann die Seele schmerzen. Meine Tochter hat verstanden. Wir haben ihr auch gesagt, dass weder ich noch sonst wer, auch nicht meine Seele und sie selbst schon gar nicht, etwas dafür können, dass dies nun so sei. Als ich in der Klinik war und sie mich so sehr vermisst hat und oft bitter weinen musste, da hat mein Mann ihr gesagt, dass auch er weinen muss beim Einschlafen und Mami fest vermisst und sich wünscht, dass Mami bald zurückkommt. Dass es o.k. sei, zu weinen. Und zu vermissen. Aber dass ich an einem Ort sei, wo man mir ganz gut helfen könne, damit ich ganz bald zurück sei. Ich bin ganz fest überzeugt, dass diese Gespräche zur Resilienz meiner Tochter beigetragen haben. Resilienz, also die psychische Widerstandsfähigkeit bei Krisen, hat mal eine Psychiaterin als Immunsystem der Seele bezeichnet – ich finde das eine gelungene Erklärung.
Bei einer Fachtagung über Depression betreffend Eltern und Kinder durfte ich als betroffene Mutter sprechen. Dabei habe ich erfahren, wie wichtig es ist, dass wir nicht eigene Ängste und Hemmungen vorschieben sollten, um unsere Kinder vermeintlich zu verschonen. Als Redner eingeladen waren auch Jugendliche und junge Erwachsene, deren Eltern an psychischen Krankheiten leiden. Auch ihre Botschaft war unmissverständlich: «Nehmt Kinder ernst. Und REDET MIT IHNEN.» Leider hatten viele von ihnen es anders erlebt. Nur ein Beispiel: Da waren Geschwister. Als die Mutter in die Klinik musste, steckte man sie vorübergehend ins Heim. Trennte sie gar noch, wegen des Altersunterschiedes. Die Mutter durfte die Kinder nicht besuchen, man ging davon aus, dass es die Kinder zu sehr belasten würde. Gesagt hat man das den Kindern aber nicht. Sie warteten und warteten darauf, dass ihre Mutter sie besucht – und dachten, sie wären ihrer Mutter egal. Das geschah nicht vor 10 oder 20 Jahren. Sowas geschieht heute. Hier und jetzt. Und es ist kein Einzelbeispiel. Also lasst uns bitte reden! Auch mit Kindern! Sie verkraften die Wahrheit viel eher als ein Tabu.
RACHEL HONEGGER
WIRMUESSENREDEN@FRUTIGLAENDER.CH