SCHILDER-GERECHTIGKEIT
«Das Sein bestimmt das Bewusstsein», sagt Karl Marx, und man kann wohl davon ausgehen, das er recht hat. Was der Mensch kennt, hält er für normal. Alles Fremde, Neue ist ihm erst einmal verdächtig.
Andererseits ist kaum ein Lebewesen so ...
SCHILDER-GERECHTIGKEIT
«Das Sein bestimmt das Bewusstsein», sagt Karl Marx, und man kann wohl davon ausgehen, das er recht hat. Was der Mensch kennt, hält er für normal. Alles Fremde, Neue ist ihm erst einmal verdächtig.
Andererseits ist kaum ein Lebewesen so anpassungsfähig wie der Homo Sapiens. Ist das Sein erst einmal geändert, arrangiert sich sei Bewusstsein meist recht schnell mit den neuen Verhältnissen.
Über das Tempo der Veränderungen wird trotzdem leidenschaftlich gestritten – vor allem in Geschlechterfragen. Die ersten Schweizer Frauen forderten schon im 19. Jahrhundert, die vollen politischen Rechte zu erhalten. Bis die letzten sie tatsächlich bekamen, dauerte es noch gut 120 Jahre.
Damit es nicht in dieser Geschwindigkeit weitergeht, hilft man dem Fortschritt heute ein wenig auf die Sprünge. In der Stadt Bern zum Beispiel wird aktuell (wieder einmal) diskutiert, an Zebra streifen gendergerechte Verkehrsschilder aufzustellen. Abgebildet werden sollen nicht mehr bloss Männer, sondern auch Frauen, daneben Kinder, gleichgeschlechtliche Paare oder Menschen mit Behinderung. Der öffentliche Raum solle dadurch vielfältiger werden, sagt die Grünen-Politikerin Katharina Gallizzi, die das Vorhaben via Motion eingebracht hat.
Vorbild für die geplante Umgestaltung ist die Stadt Genf. Dort hat man Anfang des Jahres die Hälfte der 500 Verkehrsschilder an Fussgängerstreifen «feminisiert», wie es hiess. Darauf zu sehen sind nun etwa Schwangere oder Seniorinnen mit Stock. Kosten pro Schild: 224 Franken.
Der Berner Beitrag zur Gerechtigkeit fiele deutlich grösser aus: 829 der blauen Fussgängerschilder gibt es in der Bundesstadt. Allerdings wäre Motionärin Gallizzi schon zufrieden, wenn erst einmal jene Exemplare ausgetauscht würden, die man ohnehin ersetzen muss. Der Berner Stadtrat hat bereits «gros se Sympathien» für die Idee bekundet. Weniger Freude hat man im kantonalen Tiefbauamt. Dessen Vorsteher Stefan Studer befürchtet einen «Schildersalat», wenn nun jeder sein eigenes Design entwirft.
Man muss ihn verstehen: Der Mann ist Ingenieur. Vermutlich hat er nie Karl Marx gelesen.
MARK POLLMEIER
M.POLLMEIER@FRUTIGLAENDER.CH