VOM WÜNSCHEN UND DENKEN
In meiner Jugend wurde ich zum Sterngucker: Halbe Nächte verbrachte ich im Liegestuhl im Garten, das ganze Firmament absuchend nach glühendem, glückbringendem kosmischen Gestein. Hatte ich eine Sternschnuppe entdeckt, breitete sich zunächst ein ...
VOM WÜNSCHEN UND DENKEN
In meiner Jugend wurde ich zum Sterngucker: Halbe Nächte verbrachte ich im Liegestuhl im Garten, das ganze Firmament absuchend nach glühendem, glückbringendem kosmischen Gestein. Hatte ich eine Sternschnuppe entdeckt, breitete sich zunächst ein triumphales Gefühl aus. Doch das war nicht alles. Ich empfand stets auch eine Art Mitleid: Da hatte dieses unglückliche Stück Stein doch eine so weite Reise hinter sich, um dann in Sekundenbruchteilen zu verglühen.
An diesen Gedanken erinnere ich mich in letzter Zeit leider oft. Zwar ist der Lockdown überwunden, das Virus halten wir momentan erfolgreich in Schach. Die wirtschaftlichen Folgen treten aber erst allmählich zu Tage – in Form von Konkursen und Stellenabbau. Zwischen Februar und Ende Mai ist die Arbeitslosigkeit um knapp 50 Prozent gestiegen, sie liegt heute bei rund 160 000 Leuten. Laut Prognosen könnten bis zum nächsten Jahr 100 000 Arbeitslose dazukommen. Viele der betroffenen Unternehmen dürften jahrelang erfolgreich gewirtschaftet haben, bevor sie am Lockdown – in der Schweiz dauerte er 42 Tage – zerschellten. Das ist schwer zu fassen, gerade in einem Land, das sich immer wieder seiner Stabilität rühmt. Und es ist eigentlich inakzeptabel.
Sobald Wirtschaftsfüchse die «zwingende Logik des Marktes» propagieren, müsste daher zumindest ein Teil unseres gesunden Menschenverstandes rebellieren. Zumal Alternativen zu diesem höchst anfälligen Wirtschaftssystem längst vorliegen: Mehr Polster statt Wachstum, mehr Ausgleich, mehr Bescheiden- und Besonnenheit.
Einen Systemwechsel herbeizuführen, ist ein hartes Stück Arbeit. Den Grundstein dafür zu legen, ist verhältnismässig leicht: Er beginnt in den Köpfen eines jeden Einzelnen – indem dort Bestehendes hinterfragt, Altes wegund Neues angedacht wird.
Natürlich kann solches Denken auch anstrengend sein. Als Erholung empfehle ich den nächtlichen Aufenthalt im Liegestuhl – damit die Gedanken durch die entsprechenden Wünsche auch richtig beflügelt werden.
JULIAN ZAHND
J.ZAHND@FRUTIGLAENDER.CH