Überlebenskünstler der Alpen
07.07.2020 Gesundheit, NaturNeben Steinböcken und Gemsen sind «Murbeni» die bekanntesten und wohl auch beliebtesten Bewohner der Alpen. Um den Winter zu überstehen, fressen sie sich ein dickes Fettpolster an. Dieses wertvolle Fett wird seit Jahrhunderten als entzündungshemmendes Mittel verwendet. Vor einigen ...
Neben Steinböcken und Gemsen sind «Murbeni» die bekanntesten und wohl auch beliebtesten Bewohner der Alpen. Um den Winter zu überstehen, fressen sie sich ein dickes Fettpolster an. Dieses wertvolle Fett wird seit Jahrhunderten als entzündungshemmendes Mittel verwendet. Vor einigen Jahren wurde sein Geheimnis gelüftet.
Murmeltiere fühlen sich am wohlsten in Höhen zwischen 1500 und 2500 Metern. In ihren Kolonien von bis zu 20 Tieren herrscht eine strikte Hierarchie, und vehement verteidigen sie ihr Territorium. Murmeltierpfiffe – eigentlich sind es Schreie – verkünden Gefahr: Ein schriller Pfiff, und weg sind sie. Pfeift das ranghöchste Männchen, flüchtet die ganze Kolonie in den sicheren Bau. Warnpfiffe rangniedriger Tiere werden ignoriert. Die meiste Zeit ihres Lebens verbringen Murmeli in ihren Bauen oder in unmittelbarer Nähe dazu. Über Generationen gegraben und jährlich während der Sommermonate erweitert, dienen diese den Familien als Schatten-, Flucht- und Schlafplätze.
Äusserst wählerisch punkto Ernährung
Zehn bis zwölf Kilogramm heuen Murmeltiere pro Sommer. Mit dem getrockneten Gras kleiden sie ihr Nest aus. Gefressen wird es nicht, sondern als Polster- und wichtiges Isolationsmaterial genutzt. Auf ihrem Menüplan stehen täglich etwa 1,2 Kilo Grünfutter. Dabei sind sie sehr wählerisch. In der kargen Umgebung suchen sie hochwertige, gut verdauliche Gräser und frische Kräuter. Alpenklee und Bergwegerich gehören zu ihren Lieblingsspeisen ebenso wie – je nach Angebot – Insekten, Larven und Regenwürmer. Die Pflanzen verzehren sie komplett, inklusive Wurzeln. Dies ist für sie der einzige Weg, an Flüssigkeit zu kommen, denn sie trinken nicht aus Bergbächen. Sie graben ihre Höhlen in sicherer Entfernung zu möglichen Wassereinbrüchen. Als Energiereserve für den Winter fressen sie sich ein gehöriges Fettpolster an. Entscheidend für den Fettaufbau ist der Gehalt ihres Futters an ungesättigten Fettsäuren (etwa Linolsäure). Je höher der Anteil dieser wertvollen Fettsäuren, umso energiesparender wird der Winterschlaf, während dem sie weder Nahrung noch Flüssigkeit zu sich nehmen.
Winterschlaf – eine Meisterleistung der Natur
Ohne ihre Fähigkeit zum Winterschlaf würden Murmeltiere die kalte Jahreszeit im alpinen Lebensraum nicht überstehen. Bereits 1669 hält der Schweizer Naturforscher Conrad Gesner in seinem «Thierbuch» fest: «Wann dann die Berg mit Schnee bedeckt werden […], so verbergen oder verschlieffen sich dieselben in ihre Herberg […]. Also liegen sie sicher vor dem Wind, Regen und Kälte bewahrt und schlaffen den ganzen Winter biss auff den Lenz ohne Speiss und Tranck, zusammengekrümmet wie ein Igel.» Ende September ziehen sich die Murmeltiere – ausgelöst durch kürzere Tageslängen, ihre innere Uhr und hormonelle Umstellungen – in ihre Höhlen zurück, um von Oktober bis Mai Winterschlaf zu halten. Zusammengerollt schmiegen sich tief im Bau bis zu 20 Tiere im Schlafkessel zusammen. Sinkt die Temperatur dort unter 12 Grad, beginnt der Winterschlaf, und alle Körperfunktionen werden auf ein Minimum (3 bis 5 Prozent des Sommerwerts) reduziert: Die Körpertemperatur sinkt auf bis minimal 5 Grad, die Herzfrequenz kann auf zwei bis drei Schläge pro Minute abfallen. Atemzüge benötigen sie minimal noch vier pro Minute, auch minutenlange Atempausen sind üblich. Kältestarre heisst dieser Zustand.
Etwa alle zwölf Tage, wenn die Temperatur im Bau auf unter 5 Grad sinkt, wird die Kältestarre für ca. einen Tag unterbrochen. Alle Tiere wachen synchron auf, erwärmen sich auf gut 34 Grad, setzen Harn ab und fallen danach erneut in die Winterstarre. Diese kurzen Erwärmungen sind mit einem hohen Energieverbrauch verbunden, aber offenbar lebenswichtig. Über die Gründe gibt es bisher nur Vermutungen. Eine davon ist eine regelmässig nötige, kurzzeitige Aktivierung des zentralen Nervensystems, um das Absterben von Nervenzellen zu verhindern und neuronale Schaltkreise wiederherzustellen.
Ein Fett, das es in sich hat
Murmeltiere überleben die Winterstarre nur dank ihrer Fettreserven. Besonders wertvoll, eine Art Lebensversicherung, ist das braune Fettgewebe. In den zahlreichen Zellkraftwerken wird Energie ohne Muskelarbeit rein über die Fettverbrennung gewonnen. Winterschläfer besitzen einen hohen Anteil an diesem speziellen Fettgewebe, was eine funktionale Verbindung zum Winterschlaf wahrscheinlich macht.
Fette gehören zu den ältesten Heilmitteln. Anwendungen von Murmeltierfett gegen Nerven- und Gelenkschmerzen finden sich bereits in mittelalterlichen Schriften und Arzneibüchern. Nebst den Apotheken verkauften es Hausierer, die vor allem im Tirol und in der Schweiz unterwegs waren.
Was die Wirkung des wertvollen Fettes ausmacht, war lange unklar. In der 1908 erschienenen Darstellung «Vergleichende Volksmedizin» wird die Wirkung aus der Überlebenskunst in der harten alpinen Umgebung abgeleitet: «So glaubt das Volk auch, dass das Fett eines Tieres, das eine so absonderliche Lebensweise führt, das eben seinem Fett seine eigene Erhaltung verdankt, das so hochalpine ganz besonders kräftige Kräuter frisst, auch eine besondere Heilkraft besitzen müsse ...»
Wertvolle Steroide und offene Fragen
1968 versuchten deutsche Wissenschaftler einen Anhaltspunkt für die Anwendung des Heilmittels zu finden, das «seit alters her z.B. gegen arthritische Beschwerden und Entzündungen etc.» in der Volksmedizin verwendet wird, «ohne das bisher gesagt werden kann, worauf die eventuellen therapeutischen Eigenschaften zurückzuführen wären». Sie untersuchten die Zusammensetzung der Fettsäuren im Murmeltierfett, lieferten jedoch keinen schlüssigen Grund.
1988 gelang es dem Apotheker Prof. Hildebert Wagner (München), acht bekannte Cortisonverbindungen (Steroide) im Murmeltier- und Dachsfett zu identifizieren und ihre entzündungshemmende Wirkung zu belegen. 1991 konnte die gleiche Forschergruppe nachweisen, dass die Steroide ausschliesslich im braunen Fettgewebe vorliegen, das bei winterschlafenden Tieren in deutlich erhöhtem Masse vorkommt. Über die Funktion dieser Steroide für die Winterschläfer existieren viele Denkansätze und Vermutungen (Fettstoffwechsel, Fortpflanzung, Energiegewinnung, Hormonregulation). Letztlich bleibt sie eine der bis heute offenen Fragen zum komplexen Thema Winterschlaf. Ein handfester Beleg für die traditionelle Anwendung von Murmeltierfett bei Muskel- und Gelenkbeschwerden sind die Steroide jedoch allemal. Das Frutigland steht mit innovativen Murmeltier-Produkten, die weit über die Landesgrenze hinaus bekannt sind, an vorderster Front.
Das Oberösterreichische Landesmuseum hat 1999 eine umfangreiche Schriftenreihe über Murmeltiere herausgegeben. Sie erläutern die Themen Lebensweise, Reproduktion, Genetik, Winterschlaf und Ernährung.
BEAT INNIGER, OFFIZIN-APOTHEKER FPH, ADELBODEN
Zahlen und Fakten zum Murmeli
• Gewicht: 6 bis 8 kg, Grösse: 50 bis 60 cm, Alter: bis 15 Jahre;
• Höchste Vorkommen: bis 2500 Meter;
• 1,2 kg Körperfett frisst sich ein Murmeltier während der Sommermonate an, ein Drittel davon verliert es während des 6- bis 7-monatigen Winterschlafes;
• Der Bau eines Murmeltiers kann bis zu 80 Meter lang sein; längster bekannter Gang: 1135 Meter;
• Tiefe: bis 3,5 Meter unter dem Boden, schattige Sommerhöhlen 1 Meter;
• Jagdzeit: 1. September bis 15. Oktober (Schweizerisches Jagdgesetz). Zur Vermeidung einer Überpopulation wird der Bestand der Wildtiere unter Aufsicht der Kantone durch die Jagd geregelt;
• Abschüsse: 2018 wurden in der Schweiz 7207 Murmeltiere erlegt, davon 5109 im Kanton Graubünden, 840 im Wallis und 275 im Kanton Bern (Quelle: Bundesamt für Statistik BFS).
BI