KOLUMNE – NORMAL - «Abnormal normal!»
02.07.2020 Kolumne«Abnormal normal!»
In meiner letzten Kolumne «I ha d Schnouze voll» im März habe ich davon geschrieben, wie stark die Corona-Krise das Leben in einer Institution beeinflusst und wie Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung damit umgehen. Schon damals war es für ...
«Abnormal normal!»
In meiner letzten Kolumne «I ha d Schnouze voll» im März habe ich davon geschrieben, wie stark die Corona-Krise das Leben in einer Institution beeinflusst und wie Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung damit umgehen. Schon damals war es für die BewohnerInnen schwierig, und einige konnten die Situation nicht begreifen und empfanden sie einfach nur als mühsam.
Doch es kam noch schlimmer!
In einer Institution wie der Stiftung Bad Heustrich leben und arbeiten viele Menschen auf engem Raum. Insgesamt gehen rund 120 Personen in der Stiftung mit den beiden Aussenwohngruppen in Spiez, Stöcklimatt und Wohnschule Aurora ein und aus. Diese vielen Menschen an einem kleinen Ort, aus unterschiedlichen Systemen mit unterschiedlichen Kontakten, bedeuteten logischerweise ein sehr hohes Risiko, dass eine Person infiziert wird und das Coronavirus in die Institution bringen würde. Einmal in der Institution angekommen, könnte sich das Virus sehr schnell ausbreiten. Daher wurden bereits früh Schutzmassnahmen beschlossen und auch vom Kanton Bern vorgegeben. Bei allen Vorsichts- und Schutzmassnahmen stand immer die Gesundheit der Menschen im Vordergrund, zumal in Institutionen auch Menschen mit einem erhöhten Risiko leben und arbeiten. Diese Schutzmassnahmen hatten aber äusserst grosse Einschränkungen zur Folge. Wir mussten die Kontakte auf ein mögliches Minimum reduzieren, KundInnen konnten nicht mehr bei uns einkaufen, Angehörige durften die BewohnerInnen nicht mehr im Heustrich besuchen kommen, die BewohnerInnen durften das Heustrich-Areal nicht mehr alleine verlassen. KlientInnen, die selbstständig wohnen und im Heustrich arbeiten, durften sieben Wochen lang nicht mehr zur Arbeit kommen. KlientInnen, die eine berufliche Ausbildung absolvieren, konnten erst nach acht Wochen und KlientInnen, die in der Stiftung wohnen und arbeiten, konnten erst nach zehn Wochen wieder zurückkommen, ohne in eine zehntägige Quarantäne zu müssen.
Diese spezielle Corona-Zeit war für alle Menschen sehr schwierig. Normal war, dass alle in der Schweiz und darüber hinaus mit Einschränkungen leben mussten. Doch Menschen mit einer Beeinträchtigung waren überdurchschnittlich grossen und lang andauernden Einschränkungen ausgesetzt. Keinen Besuch empfangen dürfen, nicht zu den Eltern nach Hause gehen dürfen, nicht einkaufen gehen dürfen – das alles war sehr einschneidend und herausfordernd. Auch die lange Zeit zu Hause, alleine in einer eigenen Wohnung oder bei den Eltern, kann schön, aber auch schwierig sein. In der ersten Zeit war es vielleicht wie Ferien und toll. Doch je länger diese Zeit dauerte, fehlten die tägliche normale Beschäftigung und die Aufgaben. Die Zeit wurde lang und damit vielleicht auch langweilig.
Als die Lockerungen vom Bundesrat und dann auch vom Kanton beschlossen wurden und wir endlich bekannt geben durften, dass die BewohnerInnen nach langer Zeit am nächsten Wochenende zu ihren Eltern nach Hause gehen durften, sah ich viele erleichterte und lachende Gesichter im Heustrich! Zwei junge Frauen liefen hüpfend, jubelnd, freudestrahlend über den Platz in ihre Werkstatt und erzählten ihrer Chefin aufgeregt die Neuigkeit. Umgekehrt war die Freude auch dort gross, wo KlientInnen endlich wieder zur Arbeit kommen, mit der Ausbildung weiterfahren oder in die interne Schule durften!
In einer aussergewöhnlichen Zeit möglichst viel Normalität aufrechtzuerhalten und lieb gewonnenen Tätigkeiten, Arbeiten und Hobbys nachgehen zu können und dabei den Schutz aller Personen mit unterschiedlichen Rollen, Aufgaben und Bedürfnissen unter einen Hut zu bringen, war wirklich eine abnormale Situation. In dieser Zeit wünschten wir uns den vorher nur mässig spannende Alltagstrott zurück. Wie schön kann doch die Normalität sein!
ARNOLD SIEBER
ARNOLD.SIEBER@GMAIL.COM