KOLUMNE – WAHRE GESCHICHTEN - Kolonialismus nach Schweizer Art
24.07.2020 KolumneKolonialismus nach Schweizer Art
In Bern erscheinen seit dem 19. Jahrhundert zwei wichtige Zeitungen: «Der Bund» seit 1850 und das «Bundesblatt» seit 1848. Im selben Bern und auch anderswo regt man sich heute wieder einmal auf über ein altes Zunfthausschild «zum ...
Kolonialismus nach Schweizer Art
In Bern erscheinen seit dem 19. Jahrhundert zwei wichtige Zeitungen: «Der Bund» seit 1850 und das «Bundesblatt» seit 1848. Im selben Bern und auch anderswo regt man sich heute wieder einmal auf über ein altes Zunfthausschild «zum Mohren» und über die «Colonial Bar», die sich jetzt nur noch «_BAR» nennt. Alles zu verstecken, was an Rassismus und Kolonialismus erinnere, wäre falsch, schreibt dazu «Der Bund». Dem ist beizupflichten. Hingegen greift dann die folgende, zwiespältige Darstellung zu kurz: «Die offizielle Schweiz besass weder Kolonien noch war sie in den Sklavenhandel verwickelt» und «Ausgewanderte Schweizer hielten auf Plantagen selber Sklaven».
Im «Bundesblatt» vom 10. Dezember 1864 erschien ein aufschlussreicher Bericht des Bundesrats zu diesem Thema – im weiteren Sinne. Der Schaffhauser Arzt und Nationalrat Wilhelm Joos, den der Bundesversammlungs-Biograph Erich Gruner einen «antikapitalistischen Idealsozialisten» nannte, reichte 1864 eine Motion ein, in der er Strafbestimmungen forderte «gegen Schweizer in Brasilien, welche Sklaven erwerben, halten oder veräussern».
Der Bundesrat jedoch hielt den Vorschlag nicht nur für ungerecht, sondern auch noch für wirkungslos. Mit der vollkommensten Hochachtung beantragten Bundespräsident Jakob Dubs und Bundeskanzler Johann Ulrich Schiess dem hohen Nationalrat am Schluss des ausführlichen Berichts vom 2. Dezember 1864 «über die Motion zur Tagesordnung zu schreiten.»
Mithilfe des Herrn v. Tschudi (Johann Jakob von Tschudi,1860 –62 ausserordentlicher Gesandter der Schweiz in Brasilien) und einem Herrn David («gewesenem eidgenössischen Generalkonsul in Brasilien») äusserte sich der Bundesrat einlässlich über die Schweizer Handwerker und Kaufleute im grössten Land Südamerikas. Sie würden dort Sklaven halten, meistens als Packknechte in den Lagerhäusern oder als Dienstboten zu Hause. Aus dem einfachen Grund, «weil dies für sie die vorteilhafteste und zweckmässigste Art ist, sichere und verlässliche Hilfsarbeiter (Gesellen) zu haben». In Brasilien seien freie Dienstboten eine Seltenheit. «Wer nicht eigene Sklaven zu diesem Zwecke hält, mietet solche.»
In Bezug auf Herkunft und Qualität dieser Arbeitskräfte vermerkte (vermutlich) Herr v. Tschudi: «Die gemieteten Neger sind aber in der Regel verdorbene Individuen, und es ziehen daher viele Familien es vor, für gute Sklaven einen höheren Ankaufspreis zu zahlen und Jahre lang verlässliche Dienstboten zu besitzen.»
Aber den Schweizer Grundbesitzern in Brasilien drohe, falls das Parlament die Motion Joos annehme, der Ruin. Denn der «Hauptwert eines brasilianischen Landwirtschaftskomplexes besteht nicht wie in Europa in Grund und Boden», sondern in der «Zahl der für den Betrieb verwendeten Sklaven». Überhaupt meint der Bundesrat zum Schluss: «Mögen wir es beklagen, dass schweizerische Familien in Brasilien … zu sklavenbesitzenden Pflanzern geworden sind… ihnen aber dadurch helfen zu wollen, dass wir sie um ihre Ehre und ihr schweizerisches Bürgerrecht, oder aber um einen Teil ihres immerhin rechtmässig erworbenen Vermögens bringen, widerstreitet unseren Begriffen von Moral und Gerechtigkeit.» Dennoch: Auch Schweizer haben sich in Brasilien damals als Halter von Sklaven schuldig gemacht.
«Der Neger ist von allen Menschen der einzige, dessen Fleisch zur Ware gemacht wurde», sagt Achille Mbembe in seinem Buch «Kritik der schwarzen Vernunft».
OSWALD SIGG
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