Sie springt 3 Meter hoch
21.07.2020 Frutigen, SportPORTRÄT Einer fürs Berner Oberland eher unüblichen Sportart hat sich Noelle Glauser verschrieben: dem Stabhochsprung. Der «Frutigländer» hat die junge Athletin zu einem Einzeltraining ins Wankdorfstadion begleitet.
KATHARINA WITTWER
«Seit ich letzten Winter von ...
PORTRÄT Einer fürs Berner Oberland eher unüblichen Sportart hat sich Noelle Glauser verschrieben: dem Stabhochsprung. Der «Frutigländer» hat die junge Athletin zu einem Einzeltraining ins Wankdorfstadion begleitet.
KATHARINA WITTWER
«Seit ich letzten Winter von der Leichtathletikvereinigung (LV) Thun zum TV Länggasse Bern gewechselt habe, fahre ich in der Regel Donnerstag- und Freitagabend in die Bundesstadt zum Training», erzählt Noelle Glauser auf der Fahrt dorthin. Sie hat ein bisschen Muskelkater, weil der Trainer ihr am Vortag eine neue Absprungtechnik beigebracht hat. Damit Zeit zum Fotografieren bleibt und das reguläre Training der 16- bis 20-Jährigen nicht gestört wird, darf das Nachwuchstalent ausnahmsweise eine Stunde früher ins Wankdorfstadion kommen.
Seit Ausbruch der Corona-Krise ist nur noch das Nutzen der Toiletten erlaubt, Garderoben und Duschen sind gesperrt. Zuerst tauscht Noelle Glauser die Strassenschuhe gegen Laufschuhe, zieht den Pullover aus und läuft zum Aufwärmen zehn Minuten quer durchs Quartier. Während der Trainer die Gerätschaften bereitstellt, macht sie Dehnübungen. Anschliessend ist Fuss- und Lauftechnik angesagt. Mit dem Stab rennt und hüpft sie abwechselnd mit langen und kurzen Schritten über eine Reihe von pylonenähnlichen «Hütchen».
Harz für den sicheren Halt
Nach der Aufwärmphase kann sie das am Vortag Erlernte verfeinern. Jetzt zieht sie ihre Sprungschuhe an, die mit 6 mm langen Nägeln versehen sind. Erst nimmt sie zwei, dann vier, später sechs und immer mehr Schritte Anlauf, steckt den Stab in den Einstichkasten und versucht beim Absprung, die komplexen Bewegungsabläufe umzusetzen. Trainer Philippe Yao ist ein strenger und kritischer «Lehrmeister», spart aber auch nicht mit Lob. An der Sprunghöhe wird sie erst arbeiten, wenn sie die Absprungtechnik intus hat. Das funktioniert nur nach der altbewährten Methode «Übung macht den Meister». Zwischen jedem Anlauf schmiert sie ihre Hände entweder mit Harz oder Magnesium ein. Ersteres, damit der Stab nicht rutscht, letzteres, um ein Kleben an den Händen zu vermeiden. Auch zur Trinkflasche mit geheimem Inhalt greift sie regelmässig.
Statt über die Latte wird beim Training meistens über ein Gummiseil gesprungen. «Es kann echt schmerzhaft sein, wenn der Körper gegen die Stange prallt», weiss sie aus Erfahrung und fügt an, dass sie schon verschiedentlich Prellungen am Rücken erlitten hat. Dann heisst es für die ambitionierte Sportlerin: eine Woche lang schonen. «Geschieht das an Wettkämpfen, beisst man einfach die Zähne zusammen.»
Übers Eiskunstlaufen zum Stab
Sport wurde der 18-Jährigen in die Wiege gelegt. Ihr Vater spielte Fussball, die Mutter war unter anderem eine leidenschaftliche Snowboarderin und ihre ältere Schwester war Geräteturnerin beim TV Frutigen. Als Sechsjährige begann Noelle Glauser in Thun mit Eiskunstlaufen. Zehn Jahre später zwang sie eine Fussverletzung, damit aufzuhören. Daraufhin setzte sie auf Leichtathletik – eine Sportart, die sie nebenbei schon immer betrieben hatte. Erst wählte sie Hürdenlauf und kam bald eher zufällig zum Stabhochsprung. Weil sie in Bern die Berufsschule besucht und dort bessere Trainingsbedingungen angeboten werden, wechselte die Frutigerin letzten Winter vom LV Thun zum TV Länggasse.
«Kraft und eine gute Körperstabilität sind Voraussetzungen fürs Stabhochspringen. Viele meiner KollegInnen sattelten vom Kunst- oder Geräteturnen um», sagt Glauser. Montags und dienstags trainiert sie zu Hause Kraft – unter anderem mit Pilates. Statt an freien Wochenenden untätig zu sein, macht sie Lauf- und Koordinationstraining.
Ziel: Teilnahme an U23-Europameisterschaften
In dieser Saison fanden aus bekannten Gründen erst wenige Meetings statt. Am 22. und 23 August sollten in Frauenfeld die Leichtathletik-Schweizermeisterschaften durchgeführt werden können. Die Teilnahmebedingung ist bei den U20-Athletinnen eine Mindestsprunghöhe von 2,80 Metern. Glauser überspringt meistens 3,00 Meter, womit sie aktuell auf Rang 12 der Bestenliste von Swiss Athletics steht. Ihr Rekord liegt bei 3,10 Metern. Als Mitglied des Regionalkaders nimmt sie im Winter regelmässig an Trainingswochenenden in Magglingen teil.
Ihre Vorbilder sind die Schweizer Juniorinnenrekordhalterin Angelica Moser und der Franzose Renaud Lavillenie, der Weltrekordhalter (6,16 m) von 2014 bis 2020. «Mein Ziel ist die Teilnahme an U23-Europameisterschaften!» Die Frutigerin bedauert, dass ihre Sportart an Turnfesten in der Schweiz fehlt.
Weitere Infos zum Thema finden Sie in unserer Web-Link-Übersicht unter www.frutiglaender.ch/ web-links.html
Langer Stab mit langer Tradition
Schon die Griechen und Kelten benutzten lange Stäbe, um hoch zu springen. Ungewiss ist, ob sie dies rein aus Spass praktizierten oder um schneller vorwärtszukommen. Seit etwa 250 Jahren sind in der deutschen Turnerschaft Hochsprungveranstaltungen mit dem Stab bekannt. Knapp hundert Jahre später wurden die ersten echten Stabhochsprungwettbewerbe mit schweren Eschenstangen durchgeführt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden die um vieles leichteren Bambusstöcke verwendet. Moderne Stäbe bestehen aus Verbundwerkstoffen, haben einen Durchmesser von zirka 5 cm, sind zwischen 3 und 5 Meter lang und wiegen weniger als 1 Kilogramm. Seit 1896 ist Stabhochsprung für die Männer olympisch, für die Frauen erst seit 2000. Gleichzeitig ist es eine Disziplin des Zehnkampfes.
WI
ZUR PERSON
Die 18-jährige Noelle Glauser ist in Frutigen geboren und aufgewachsen. Bei der Firma Egger AG absolviert sie ihre dreijährige Lehre als Printmedienverarbeiterin. An der Belle Epoque in Kandersteg zieht sie regelmässig ihre Eislaufschuhe und ein passendes Kleid an und erfreut das Publikum in den Pausen des Nostalgie-Eishockeymatches mit Pirouetten. Sofern Gelegenheit, klettert sie am Felsen und trainiert damit gleichzeitig ihre Muskulatur.
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