KOLUMNE – EINGESPRUNGEN
11.08.2020 KolumneDigitalisierung und Körperpflege
«Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei», sprach der Herr, kurz nachdem er die Welt erschaffen hatte. Seit diesem Jahr möchte man hinzufügen: Es ist auch nicht gut, dass der Mensch allein lernt.
Gerade hat das Münchner ...
Digitalisierung und Körperpflege
«Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei», sprach der Herr, kurz nachdem er die Welt erschaffen hatte. Seit diesem Jahr möchte man hinzufügen: Es ist auch nicht gut, dass der Mensch allein lernt.
Gerade hat das Münchner ifo-Institut 1100 Eltern in Deutschland zu ihren Erfahrungen während des Lockdowns befragt. Wie lange dauerte der tägliche Schultag zu Hause? Wie war die persönliche Betreuung durch die Lehrpersonen? Wie lief das so mit dem Onlineunterricht? Die Ergebnisse der Umfrage sind ernüchternd. Die «Schule daheim» dauerte im Schnitt dreieinhalb Stunden. Mehr als die Hälfte der Schüler Innen (57 Prozent) hatte seltener als einmal pro Woche Unterricht im Klassen verband (per Videokonferenz oder Telefon). 45 Prozent hatten in all den Wochen sogar nie gemeinsamen Onlineunterricht.
Rund zwei Drittel der Eltern (67 Prozent) gaben an, dass ihr Kind weniger als einmal pro Woche individuellen Kontakt mit einer Lehrperson hatte, sei es per Telefon oder via Onlinemedien. Und apropos Online: Das mit Abstand meistverwendete Lern mittel während des Lockdowns war das gute alte Arbeitsblatt. Auf Papier.
Ich weiss nicht, inwieweit man die Ergebnisse aus Deutschland auf die Schweiz übertragen kann. Nach meiner Erfahrung ist die Digitalisierung hierzulande etwas weiter fortgeschritten. Das zeigt sich unter anderem in der Kommunikation der Schulen: Statt den sonst üblichen Elternbriefen und Infoblättern erhielt ich seit März alle paar Tage ellenlange E-Mails mit umfangreichen Anhängen. Vom Klassen lehrer. Vom Stufenleiter. Vom Rektor. Von den Elternvertretern. Selbst während der Ferien ebbte die Flut an elektronischer Post nie ganz ab.
Zum Beginn der Corona-Krise hatte die WHO vor einer drohenden «Info demie» gewarnt – mittlerweile weiss ich, was damit gemeint war.
Auch unser Jüngster konnte sich über mangelnde elektronische Betreuung nicht beklagen. In der mehrwöchigen Phase der Schul schliessung hatte er regelmässige Online-«Konferenzen» mit der ganzen Klasse. Selbst verständlich dürfe jeder Schüler selbst entscheiden, ob er die Videokamera seines Computers oder seines Smartphones dabei einschalten wolle. So war es vorab in einer der vielen Info-Mails angekündigt worden.
Unser Sohn wollte das nicht. Ganz nach Art des frühen Teenagers nutzte er sein «Home office», um Körperpflege und Bekleidungszwänge etwas lockerer zu interpretieren. Wenn also der Klassenlehrer morgens zur Onlinestunde rief, sass der Schüler Pollmeier meist mit verstrubbelten Haaren und knittrigem Shirt vor dem Laptop, den Müesli-Löffel noch in der Hand. Die Kamera des Geräts blieb konsequent ausgeschaltet; so eitel war er dann doch. In seinem Lockdown-Outfit sollte ihn niemand sehen.
Das war dann aber auch nicht recht. Nachdem er ein paar Mal als schwarze Kachel an den Videositzungen teilgenommen hatte, fragte die Schule besorgt bei uns nach, ob zu Hause alles in Ordnung sei – man würde unseren Sohn ja nie zu Gesicht bekommen. Wir versicherten, es gehe uns gut und wiesen darauf hin, der Kameraeinsatz sei ja freigestellt worden. Doch so ganz überzeugt wirkten die Lehrpersonen nicht. Irgendwie fehlte ihnen wohl die Kontrollmöglichkeit. «Geh duschen und mach nächstes Mal die Kamera an», sagte ich zu meinem Sohn. «Nicht, dass irgendwann die KESB vor der Tür steht.»
Nun hat die Schule wieder begonnen, mit Abstandsregeln, fester Sitzordnung und, wo nötig, mit Masken (siehe Artikel auf Seite 1). Alle diese Einschränkungen sind kompliziert und lästig, keine Frage. Aber ich bin überzeugt, der analoge Unterricht ist besser – für den Lernerfolg, fürs soziale Miteinander und nicht zuletzt für die Körper hygiene.
MARK POLLMEIER
M.POLLMEIER@FRUTIGLAENDER.CH
Eigentlich sollte an dieser Stelle der Text einer anderen Kolumnistin erscheinen. Weil ihr jedoch kurzfristig etwas dazwischenkam, hat der Autor den freigewor denen Platz ausnahmsweise übernommen.