KOLUMNE – FROM THE OTHER SIDE - Die Sache mit der Trauer
25.08.2020 KolumneDie Sache mit der Trauer
Als ich damals vor drei Jahren mein gesamtes Leben in drei Taschen gepackt, mich in ein Flugzeug gesetzt und ein neues Leben in Australien begonnen habe, dachte ich hin und wieder daran: Was, wenn sich die Welt derart verändert, dass ein schneller ...
Die Sache mit der Trauer
Als ich damals vor drei Jahren mein gesamtes Leben in drei Taschen gepackt, mich in ein Flugzeug gesetzt und ein neues Leben in Australien begonnen habe, dachte ich hin und wieder daran: Was, wenn sich die Welt derart verändert, dass ein schneller Besuch in der Schweiz nicht mehr so einfach möglich wird? Doch natürlich durfte ich nie lang bei diesem Gedanken verweilen, ansonsten hätte ich wohl kaum den Mut gehabt, ans andere Ende der Welt zu ziehen. Und bis jetzt ist auch alles gut gegangen. Als letztes Jahr meine Grossmutter unerwartet starb, war ich innerhalb von 48 Stunden in der Schweiz und fünf Tage später wieder im Büro. Sowas kostet zwar, aber ein Notfallbudget für ein Flugticket gehört bei mir halt einfach dazu.
Jetzt ist alles anders. Im März hat Australien die Grenzen dicht gemacht. Zwar hätte ich als Schweizerin zu diesem Zeitpunkt das Land noch verlassen dürfen, aber zurück wäre ich nicht mehr gekommen. Nur wenige Tage später wurde mein Visum (endlich, nach zwei Jahren) genehmigt. Als sogenannte «Permanent resident» gelten für mich nun die gleichen Regeln wie für AustralierInnen: Die Grenzen sind zu, und wer das Land verlassen will, muss eine Genehmigung einholen. Das kann bis zu einem Monat dauern, und die Bedingungen, um eine solche zu erhalten, scheinen absolut willkürlich. Bei einer Rückkehr stehen dann zwei Wochen Hotelquarantäne an, und seit gut zwei Monaten muss man dafür auch selber aufkommen (etwa 3000 Dollar). Dazu kommt, dass Qantas am Boden bleibt und im Moment nur ausländische Airlines landen. Man hört, dass zum Teil nur vier Economy-Passagiere im Flugzeug sitzen und die Airlines alles Mögliche versuchen, um den Passagieren ein Business-Ticket aufzuzwingen.
Gut, das sind die Umstände momentan und auf unabsehbare Zeit.
Ich bin extrem privilegiert. Ich habe eine Arbeit und dürfte die wohl auch behalten (die Leute kaufen Bücher, zum Glück). Meine Partnerin ist sogar systemrelevant. Es wird langsam Frühling, ich habe Knoblauch und Tomaten und Radieschen gepflanzt auf dem Balkon, die Katze räkelt sich in der Sonne. Wir können sogar ein paar Tage in die Ferien – zwar sind auch die «Kantons»-Grenzen zu, aber New South Wales ist ein riesiger Bundesstaat, und wir können stundenlang im Auto der Küste entlangfahren, ohne auch nur in die Nähe von Victoria oder Queensland zu kommen.
Und trotzdem ...
Ich habe neulich ein Interview mit David Kessler gelesen, einem führenden Experten auf dem Feld der Trauerforschung, und er sagte: «Dieses Unbehagen, das wir fühlen im Moment, das ist Trauer.» Die Trauer zu verstehen, ist der erste Schritt zur Bewältigung. Nach Elisabeth Kuebler-Ross, mit der Kessler mehrere Standardwerke verfasst hat, fängt der Prozess mit Nicht-wahrhaben-Wollen an: «Das Virus wird uns nichts anhaben, das Virus geht uns nichts an.» Es kommt Wut: «Ich muss mein Leben einschränken.» Verhandeln: «Wir bleiben drei Wochen zu Hause im Lockdown, dafür ist es nachher vorbei.» Wenn es nach drei Wochen nicht vorbei ist – Traurigkeit: «Ob es je wieder besser wird?» Und schliesslich Akzeptanz: «Es ist nun mal so, und ich muss damit leben lernen.»
Wir trauern als Gesellschaft. Menschen trauern natürlich um diejenigen, die sie durch das Virus verloren haben, aber als Kollektiv trauern wir um den Verlust eines Sicherheitsgefühls, um eine Welt, wie wir sie kennen, um verpasste Gelegenheiten. Viele stecken im Nicht-wahrhaben-Wollen fest – das Virus sei eine Erfindung –, und die Verweigerung packen sie gleich mit anderen irrationalen Ängsten zusammen – das Virus sei in die Welt gesetzt worden von einer Schattenmacht, von jemandem, der uns alles wegnehmen will, der uns kontrollieren will. Die meisten hingegen finden irgendwann den Weg zur Akzeptanz, weil eine gewisse Grundresilienz einfach zur Menschheit dazu gehört.
Ich verhandle noch. Wenn ich in den kommenden Monaten Maske trage im Bus und Umarmungen auf Frau und Katze beschränke, fallen nächstes Jahr die Reisebeschränkungen – und die Hochzeit findet statt wie geplant.
SANDRA BUOL
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