KOLUMNE – SPAGAT
14.08.2020 KolumneEine Wanderung zurück in die Kindheit
Ich bin im Seeland aufgewachsen. Damals, als Kind, und das ist ja nun tatsächlich schon eine gefühlte Ewigkeit her, konnten meine Schwestern und ich noch auf knapp 500 m ü. M. in der Wiese neben dem Haus die ersten «Gehversuche» ...
Eine Wanderung zurück in die Kindheit
Ich bin im Seeland aufgewachsen. Damals, als Kind, und das ist ja nun tatsächlich schon eine gefühlte Ewigkeit her, konnten meine Schwestern und ich noch auf knapp 500 m ü. M. in der Wiese neben dem Haus die ersten «Gehversuche» auf unseren Ski machen. Weil meinen Eltern der Schneesport wichtig war, verbrachten sie mit uns jeweils zwei Frühlingsferienwochen in einem Skigebiet irgendwo in der Schweiz. Für mich war das der Höhepunkt des Jahres. Ferien in einer fremden Wohnung, die Grosseltern lange Zeit als «Hüeti» für meine jüngeren Geschwister dabei – eine wunderbare Zeit. Und eine eindrückliche, die Spuren hinterlassen hat.
Die ersten Jahre reisten wir ins Bündnerland nach Laax. Und weil diese Ferien so bleibend waren, kann ich mich nach 45 Jahren nicht nur an das stundenlange Ausharren im Stau am Walensee («du Qualensee») sondern vor allem auch an das traumhafte Skigebiet rund um den Crap Sogn Gion («Crap Son Tschon») erinnern.
Schon seit Langem wollte ich wieder einmal auf «meinen Berg» und die Plätzchen meiner ersten Ski-Erfahrungen (auf-)suchen. Und so machten wir uns an einem sonnigen Tag Ende Juli auf. Wir lösten ein einfaches Ticket, weil wir zurück ins Tal wandern wollten. Die Talstation war ganz neu gemacht, das war sofort offensichtlich, und auch die rote Gondel von damals war durch eine noch grössere, blaue ersetzt worden. Wegen der Corona-Bestimmungen durften statt 100 nur 40 Personen befördert werden. Über Platzmangel konnten wir uns also nicht beklagen, auch wenn in der Mitte wohl ein Dutzend Bikes fixiert wurden.
Ich wählte einen Platz, der mir die volle Aussicht auf das faszinierende runde Restaurant und die angebaute Bergstation bot. Eine knappe Viertelstunde später öffneten sich die Türen und ich konnte hinaustreten. Hinaus aus der Gondel, hinaus aus dem Gebäude, hinaus auf die Terrasse …
Und da stand er. Alt, uralt, für mich fast schon ein bisschen weise. Jetzt, im Sommer, stillgelegt. Die Stangen mit den Tellern weggeräumt. Vier kleine Masten aus Stahl auf einer Länge von vielleicht 150 Metern, Seile und unten ein kleines Häuschen: «Mein» Skilift. Vom Anblick gefesselt, hörte ich in Gedanken den surrenden Ton des Motors, das Klirren der Stangen, wenn sie sich nach ihrer Talfahrt unten wieder einordneten. Und in der Hitze des Sommers konnte ich mir auch die Kälte des Schnees vorstellen. Ich erinnerte mich an Ernsts Gesicht. Ein furchiges, bärtiges Gesicht, das immer freundlich lachte und mir half, den Teller rechtzeitig zu erwischen. Damals war ich keine sechs Jahre alt. Bewegt über so viele Erinnerungen, schaute ich mich um und entdeckte den «Vorab», der mit seinen 3028 Metern Höhe damals nur per Helikopter erreichbar war. Mir fiel ein, wie ich auf den Knien meines Papas mitfliegen durfte und auf dem Rückflug neben dem Piloten durch den gläsernen Boden schaute, weil ich zu klein war, um aus dem Fenster sehen zu können.
Auf der anderen Seite die Halfpipe. Laut Aussagen meines Papas verschwand ich auf der Talabfahrt teilweise in den Buckeln der schwarzen Piste aus seinen Augen. Ganz so waghalsig wie die Abfahrer, die sich damals in die Tiefe stürzten, war ich wohl nicht.
Die schwarze Piste. Sie war Ausgangspunkt unserer Wanderung ins Tal, die so steil war, dass ich meinen Knien zuliebe im Zickzack talwärts ging. Immer schaute ich zurück, um einen Blick auf das Restaurant zu werfen, in dem wir bei schlechtem Wetter ausnahmsweise eine heisse Ovo bekamen. Das mitgebrachte Sandwich assen wir dann auch aus Kostengründen auf dem grossen Felsen, der heute unter einem Betonbau verschwunden ist.
Vieles hat sich seit meiner Kindheit in Laax verändert, einiges ist geblieben. Ganz sicher meine Faszination für den Berg meiner Kindheit. Und so werde ich nach diesem Wiedersehen wieder gehen. Das nächste Mal im Winter. Und dann werde ich es mir nicht nehmen lassen, mich vom Tellerlift die letzten Meter zur Bergstation ziehen zu lassen. Nicht gratis, wie damals, als Ernst jedes Mal ein Auge zudrückte und für seine Freundlichkeit als Dank von meinen Eltern eine Schachtel Zigarillos bekam, die er den ganzen Tag rauchte.
FRANZISKA KAUFMANN
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