KOLUMNE – DERFÜR U DERWIDER - Der Fluch
08.09.2020 KolumneDer Fluch
Leandra ist sieben Jahre alt und lebt in der peruanischen Stadt Cerro de Pasco – keine gewöhnliche Stadt, wie ihre Eltern immer wieder betonen. Ihr Haus steht wie viele andere in dieser kleinen Stadt nahe am Abgrund der alten Mine. Der Segen der Bodenschätze ...
Der Fluch
Leandra ist sieben Jahre alt und lebt in der peruanischen Stadt Cerro de Pasco – keine gewöhnliche Stadt, wie ihre Eltern immer wieder betonen. Ihr Haus steht wie viele andere in dieser kleinen Stadt nahe am Abgrund der alten Mine. Der Segen der Bodenschätze wurde vor langer Zeit zum Fluch. Der Boden dieser Region ist reich an Silber, Zink und Blei. Oder besser: war reich an diesen Bodenschätzen. Der gierige Abbau seit über 100 Jahren hat zu einer gravierenden und irreversiblen Veränderung der Landschaft geführt. Aber nicht nur das. Der Boden, das Wasser und die Luft sind mit Schwermetallen vergiftet, sagen die Leute dort. Leandra versteht nicht, was sie damit meinen, aber sie weiss, dass sie wegen dieses Gifts krank wurde. Unheilbar krank, hat ihre Mutter gesagt, und Leandra leidet unter den unerträglichen Schmerzen, die diese Krankheit mit sich bringt. Am Anfang war es nur Nasenbluten. Aber dann musste sie zum Arzt, der ihr aber auch nicht helfen konnte. Die Schmerzen bestimmen nun ihren Alltag. Sie ist damit nicht allein. Auch ihr Bruder Valerian und ihr Onkel Vicente und fast alle ihre Klassenkameraden sind krank. «Der Fluch» nennen es die Alten, aber die Jungen haben die Sprache darüber verloren und ergeben sich oft in ihr trauriges Schicksal.
Die Begebenheit ist real, auch wenn die Namen der Personen zufällig gewählt sind. Was aber ganz und gar nicht stimmt, ist die unsägliche Behauptung, dass diese Situation etwas mit einem Fluch oder mit dem Schicksal zu tun hat. Vielmehr sind es unersättliche Gier und skrupellose, eiskalte Berechnung, die Leandra alles geraubt haben, was Kinder in diesem Alter und ihre Eltern benötigen: Gesundheit, eine intakte Umwelt, Wasser, Luft, Perspektive, Hoffnung. Die genannte Mine gehört seit drei Jahren einem riesigen Schweizer Unternehmen. Es wäre nun aber unfair zu behaupten, die Schuld am Erkranken von Leandra und ihren Freunden sei die Schuld dieses internationalen Konzerns. Eine moralische oder juristische Schuld ist wohl ohnehin sehr schwer nachzuweisen und einzuklagen. Auch würde es Leandra vermutlich wenig nützen, wenn ein verurteilter Unternehmer Schadenersatz leisten müsste. Der Schaden ist bereits angerichtet und kann weder mit Geld noch mit guten Worten rückgängig gemacht werden.
Anstelle einer Schuldzuweisung könnte aber das Einfordern von verantwortlichem Handeln eine bedeutende Änderung für die Zukunft in Peru oder in Kolumbien oder in Indien oder in vielen anderen von Ausbeutung bedrohten Regionen bringen. Schweizer Konzerne sollen für ihr Handeln (oder auch für ihr Nichthandeln) geradestehen. Der Initiativtext der etwas umständlich und zungenbrecherisch klingenden Konzernverantwortungsinitiative formuliert dies so: «Die Unternehmen sind zu einer angemessenen Sorgfaltsprüfung verpflichtet; sie sind namentlich verpflichtet, (...) geeignete Massnahmen zur Verhütung von Verletzungen international anerkannter Menschenrechte und internationaler Umweltstandards zu ergreifen, bestehende Verletzungen zu beenden und Rechenschaft über ergriffene Massnahmen abzulegen.» Juristische Sprache halt. Aber eigentlich wird hier eine Selbstverständlichkeit eingefordert: Schweizer Unternehmen sollen sorgfältig handeln. Punkt.
Was für die meisten kleinen und mittleren Unternehmen in unserer Region das Normalste der Welt ist, soll explizit auch für internationale Grosskonzerne wie Glencore, Nestlé, Syngenta oder Lafarge Holcim gelten. Solche Konzerne überbieten sich gegenseitig mit ausgeklügelten und juristisch fein geschliffenen Ausreden, anstatt Verantwortung zu übernehmen und für ihr Handeln geradezustehen. Am 29. November stimmen wir über den genannten Zungenbrecher ab. Ich hoffe, dass sich diese Ausreden damit erübrigen und dass Leandra und ihre Freunde schon bald wieder etwas Hoffnung schöpfen können.
HANS PETER BACH
HANSPETER.BACH@LIVENET.CH